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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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mit dem Gewehrkolben in die Nieren, wenn ein Jahr im Vernehmerzimmer mangelhafte Zensuren bekommen hatte, ins Genick, wenn die Note ungenügend ausgefallen war. Die jungen Kerle im Dienst des M. G. B. kannten das ungefähre Ausmaß der verordneten Behandlung, nicht jedoch den täglichen Grund davon; so schienen sie ihre Schutzbefohlenen in den Kellergängen lediglich anzutreiben. Leidenschaft war kaum je zu spüren. Es brauchte nicht Haß, einen Häftling da wach zu halten, das besorgten die Lastwagenmotoren, die während der Verhöre Hofkonzerte abhielten, vier Nächte lang eine Kreissäge. Am Tage waren die schriftlichen Arbeiten fortzusetzen. Cresspahl erschwindelte sich eine einsame Woche, indem er auf seine Großeltern und die Jahre nach 1875 auswich; er übertrieb das Genealogische an der Fragestellung nur wenig. Die Karzerstrafe konnte er als Quittung denken. Ihm stand ja die Wahl frei. Seine neuen Vorgesetzten, der Fachmann von der Kontrassjedka und der Buchprüfer des S. M. T., hatten ihm die Analyse seiner Klassenlage und seiner persönlichen Rolle bei falschen Wendungen der Weltgeschichte fix und fertig hinterlassen; es war sein Belieben, darunter seinen Namen nicht zu setzen. Er sträubte sich nicht aus Hartnäkkigkeit, denn er mußte eine Rückkehr zu den Kindern noch wünschen. Um Wahrheit allein kann es ihm nicht gegangen sein, denn bald beschrieb er sich als Jemand, der war achtundfünfzig Jahre auf der Welt unterwegs und hat mit keinem Menschen gehandelt, gesprochen, gemeinsam gearbeitet. Womöglich wollte zwar er ins Reine kommen mit der Neuen Gerechtigkeit, solange er die anderen draußen halten konnte. Manchmal bliesen die Inspektoren seines Lernprozesses ihm etwas ein, so einen Aufsatz für das Jahr 1922, den Namen Hähn, Geheimrat und Vermittler von Schußwaffen. Wann immer der Schüler in einem Fach versagte, vermochte er sich die Schläge fürs Morgengrauen fast fehlerlos auszudenken, und doch geriet er in unbekümmertes Denken aus seinem Leben hinaus in ein anderes, das ihm ebenso tatsächlich hätte vergangen sein dürfen, von 1904 nicht gleich ohne Gesine Redebrecht, eine Weile noch mit ihr, von 1930 an mit Mrs. Trowbridge in Bristol, beständig an Richmond vorbei, mit einem dreizehnjährigen Henry, oder totgebombt mit beiden, von 1920 an mit Mina Goudelier, aber nicht lange an der Kostverlorenvaart hinterm Großmarkt von Amsterdam, lieber doch an der Fella, in Chiusaforte, wo er Intarsien nicht nur hätte lernen auch arbeiten dürfen, nein nicht wohin die Deutschen als Besetzer kamen, eher in … Australien, wenn Goudeliers Tochter so weit mit ihm gegangen wäre, über andere Meere als Papenbrocks Lisbeth, die dann den November 1938 hätte überleben dürfen, oder mit allen vieren zusammen in einer Erinnerung anderer High Streets, Seeufer, Broadways, Morgenlichte, Ausflüge im Gras. Er nahm nicht übel, daß die träge laufenden Bilder ihn nur am Rande mitführten oder vergaßen. Nur, wenn die Rote Armee ihm eine Tablette zuteilte, bestand sie aus nichts als Aspirin. Es brauchen nicht Träume gewesen zu sein. Auch wurde ihm das Gewissen nicht unruhig, weil er bei Kost und Logis eingesperrt war mit einem Geschäft, auf das er sich mangelhaft verstand, während rund um das Gefängnis die Leute einander mit Arbeit wieder in den Alltag halfen (so stellte er sich das vor). Die Entscheidung über ihn war abgegeben an das Ministerstwo Gosudarstwennoi Besopasnosti, mochte es einstehen für sein unnützes Dasitzen. So reichlich gefördert, hatte er sich im Januar 1947 durchgeschrieben bis zur güstrower Dienstzeit (und die dumme Tochter hat nicht gefragt), Ende Februar bis zu seinem ehrpusseligen Streit mit der S. P. D. (und die dumme Tochter dachte mit Fragen zu warten), so daß von seiner Hand inzwischen 260 Bögen Lebenslauf vorlagen, maschinenschriftlich und von ihm unterzeichnet jedoch nur zwei Seiten, die erste Fassung. Dauerhaft hielt er sich für einen Partner seiner Gerichtsherren, nach Nummer und namentlich bekannt, versehen mit einem Recht auf Prozeß und Urteil, auf einem gleichsam verabredeten Wege voran, nicht nur in der Zeit. Ende Februar kündigten sie ihm den Vertrag. Er wurde »mit allen Sachen« auf Transport gerufen.
    »Sachen« hatte er seit dem letzten Umzug nicht besessen, er trat in die Versammlung auf dem Kasernenhof wie einer, der will nur bis zum Abend spazieren gehen. Die Überführung ging zu Fuß, in Kolonnen ruppiger Männer, die erst wenige Tage verhaftet waren und

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