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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Befehle der Begleitmannschaft in geradezu preußischem Zeremoniell ausführten. Aus Neugier nahmen sie sich des dösigen Alten an, hielten ihn am Arm, weil er die Füße taumelig setzte. Bald gaben sie ihn auf, denn er konnte auf Fragen nach seinem »Fall« nur antworten: Ick w-weit’t nich …, der redete trödelig, dem rissen die Sätze entzwei, auch am Kehlkopf mochte er was haben. – Ick bün achtnföfftich! sagte der, vielleicht weil sie ihn Opa genannt hatten, aber doch eher vor sich hin, und sie legten für den wunderlichen zerlumpten Kerl zusammen zu einer Zigarette. Es war sein erster Tabak seit elf Wochen, ihm wurde zumute wie in den australischen Träumen, so daß er später nicht für sicher wußte, ob der Marsch denn wahrhaftig von Schwerin abgegangen war. Nebenbei waren seine Augen nicht gesund. Bei Rabensteinfeld ging ihm die Richtung der Reise auf, und wenn die anderen an den Straßenkreuzungen fluchten über unverändert Osten, konnte er an eine Veranstaltung für ihn allein glauben. Denn der Weg durch Crivitz, er sollte ihn erinnern an etwas, ein Versprechen womöglich, er fand es nicht. Bei Mestlin sollte ihm etwas einfallen, es plagte ihn noch zehn Kilometer weiter, dann erkannte er es als die Abzweigung nach Sternberg und Wismar und Jerichow, von nun an versäumt. Hinter Karow quälte ihn, daß er die Geleise nicht erkennen konnte, die doch links der Straße liegen mußten, als sei er auf dem falschen Weg. Dem Anblick von Alt Schwerin traute er widerwillig, da fehlte etwas am Bahnhof, der Krebssee machte ihn irre, endlich sah er die Windrose an der flügellosen Mühle vor der Stadt und mußte sich länger nicht wehren: sie zeigten ihm noch einmal Malchow. Nur daß alles hoch über ihm war. Wie im Traum wissentlich verkleinert trat er noch einmal ein in den Sommer 1904, mit den übers Wasser schaukelnden Liedern des Seecorsos am Freitagabend, kam ins Volksfest auf dem Kinderplatz den ganzen nächsten Tag, da blies das Musikkorps der Parchimer Dragoner in den bunten Märchenuniformen und ritten drei Reiter zum Tore hinaus, mitten im behaglichen Gewimmel der Toten stand ein Junge mit der Tochter des Meisters zwischen der Lindenallee und den großen leinenen Zelten, von allen gesehen, von Niemand entdeckt, dat du min Leewsten büst un hest man kein Geld, Höltentüffel un Schauh, 1920 übernahmen die Arbeiter die Stadt Waren und Baron Stephan le Fort auf Boek beschoß das Rathaus mit einer Kanone, da richtete der Delegierte des Streikrats bei den Malchowern nichts mehr aus, denn die Kierls scheitn jo, und nur ein gräflicher Gutsförster, der den Gutsleuten Fuhrwerk zur Holzwerbung abschlug und sie bambüdeln wollte, verlor sein Haus und wurde vom Hof getrieben. Mit’n Stock, de afschällt is, dörw Ein nich Minschn orre Veih schlagn, denn wat damit schlagn ward, dat mütt vergahn. Und es war doch Olden Malchow auf der Insel, der Gierathschen umgeben von Gärten und Bootsstegen und Giebeln, de Möhlenbarg, das geringfügige Stück Festland, das die Kirchen nicht gelitten hatte, da half noch ein Sturm vor hundertfünfzig Jahren, de Ünnerierdschen brauchten ihren Platz für Johanni. In den Erddamm zum anderen Ufer war ein Loch gesprengt und schlampig zugeschüttet, als trüge er nun nicht, mit Ach und Krach war noch schwimmen bis zum Burgwall der Wenden, dem Wiwerbarg, an dem der Sechsjährige Gänse vorbeigetrieben hatte, die Unterirdischen ließen sich ja nicht sehen, wenn sie zum Mittag auf den Laschendörper Hoff gingen, aber ein Schäfersknecht hörte sie rufen Hoot her, Hoot her! und rief nach einem Hut für sich selbst und setzte ihn auf und sah sie vor sich stehen, lute lütt Mönchen mit dreetimpig Höd, dor sünd se tosprungen un hebbn em de Oogen utrakt und nahmen ihm die Tarnkappe ab. De Zwerchen in den Wiwerbarg sœlen so ne schöne Musik måkt hebben.
    Hier liegt Fünfeichen, das Sanatorium! Bräunlich und geradlinig liegt es mit seinen Baracken und seiner Hauptwache inmitten der weiten Ödfläche, die mit matschigen Lattenrosten, Stacheldrahtgängen und gedrungenen Wachtürmen ergiebig ausgestattet ist, über seinen Pappdächern ragen tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge am Lindental und dem Tollense-See himmelan, und weithin sichtbare Tafeln am Zaun unterrichten den Freund der Landschaft in russischer und deutscher und englischer Schrift: Verbotene Zone. Eintritt verboten. Es wird geschossen!
    Nach wie vor leitete die Rote Armee die Anstalt. Angetan mit

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