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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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daun?
    – Erichson gibt auf. Sieger Cresspahl, nicht bloß nach Punkten.
    – Schreib doch an den jungen Vollbrecht! Der ist Avkaat in Stade, den findet die Post.
    – Du, Gesine. Das trau ich mich nicht.

    Und wozu war nun das große Essen? D. E. erhob sich nach dem Braten, würgte sich eine Serviette zwischen Kragen und Hals, ganz wie bei feinen Leuten, und hielt eine Rede für Marie. Ursprünglich habe er auch an diesem Tage wieder die Familie Cresspahl heiraten wollen, er sei jedoch beruflich verhindert und verspreche, die leidige Angelegenheit erst im September wieder zu erwähnen. Als Ersatz könne er ein Laienspiel ankündigen, zwei Stunden lang geprobt, eine Sache mit verteilten Rollen, auftretende Personen ein Fürst namens Dubrowskij, ein garantiert ungezähmter Bär …
    – Paßt es uns im September? fragte Marie.

10. Juni, 1968 Montag
    Marie reiste hoch über dem Hudson dahin auf George und Martha Washingtons Brücke; unter dem Fluß war ihre Mutter unterwegs von Hoboken nach Manhattan in der Tiefbahn PATH ; Marie entstieg in der Auffahrt zur Schule einem unzweifelhaften Bentley; Mrs. Cresspahl kam fast auf die gewöhnliche Minute an unter dem Times Square, das war nicht mehr sie, abgeschnitten war sie von einem Tag freier Zeit auf dem Lande, eingerastet in den Weg zur Arbeit, schon verwandelt, schon eingebaut in den fremden Tag, den vermieteten. Ein Ertrinkender ist vernünftiger, und schlägt um sich.
    In dem mittleren der drei Leuchtkästen, mit denen eine Kosmetikfirma die Anzeigetafeln im Bahnhof Grand Central rahmt, hing noch eine Fotografie des ermordeten Senators, garniert mit schwarzen und lila Schleifen. Offenbar war das Arrangement nur vergessen worden.
    Wieder war es ein Tag, da schienen noch in der New York Times Konfidenzen versteckt für de Rosny, die zu lesen hat er jemand Angestelltes. Aus London wird ihm bedeutet, die sowjetischen Manöver-Übungen auf dem Territorium der Č. S. S. R. sollten nicht »eine gewisse Einschüchterung« ausüben. Wer wird denn dergleichen im Traum für dienlich halten. Verabredet war der militärische Besuch schon für sechs Monate vorher, so für den günstigen Januar; da ist etwas verschoben worden. Wenn doch die Agentur Novosti in Person sagt, die tschechoslowakischen Führer hätten ihre Treue zum Warschauer Vertrag immer wieder und noch einmal bekräftigt. Zu Besuch kommt morgen, heute, auch eine Kommission für Wirtschaft, und zuverlässig soll von de Rosny die Rede sein, von einer Anleihe in harter Währung. Herkömmliche Rechnung freilich wird es nicht tun. Man nehme einmal als gegeben hin, daß die Č. S. S. R. mangelhafte, minderwertige Industriegüter liefert, und frage streng nicht nach den Gründen. In der anderen Richtung schickt die Sowjetunion Rohmaterial, an dem ist gar nichts verdorben. Das, so ergibt die Gleichung, beträgt ebensoviel wie ein Kredit in hartem Gelde ausmachen würde. Es mag Mathematikern nicht einleuchten, für Gelehrte der Ökonomie nur Aufschluß bieten; jedoch ist solcher Personenkreis gar nicht angesprochen.
    Nur daß die Angestellte Cresspahl den ganzen Vormittag keine Maschine benutzte; nichts rührte sie an, was Geräusche machen kann in diesem Büro, aus dem der äußere Schall bereits weggedämmt ist. Stumm, von der Stille fast fleißig rechnete sie an einem Diagramm aus dem tschechoslowakischen Fünfjahrplan; hinter ihr, eingelullt vom ebenmäßigen Ausatmen der Klimamaschine, lag Besuch auf dem Sofa, schlafend.
    Amanda Williams, wär sie auf unserer Schule in Gneez gewesen, sie hätte einen Spitznamen getragen wie Das schöne Pferd. Auf der Oberschule. Oder sie hätte gegolten als Uns’ Rappstut’, gerade nicht wegen fülligen Leibes, sondern weil solch Kind sich rasch bewegt, wie immer zierlich tretend, doch mit einer sausenden Wucht, ob es nun aus dem Salto rückwärts gestreckt ins Wasser sticht oder einem Lehrer auf den Fuß rückt; unweigerlich Freundinnen zugetan, harmlos bedacht auf den eigenen Nutzen, von manchem Erfolg überrascht, nämlich weit voraus in der weiblichen Ausbildung und ohne viel Ahnung davon. Ein Mädchen, auf das noch die Jungen in der Klasse stolz sind, mögen sie zweimal abgewiesen sein. Dennoch ließ solch Wirbelwind von einem Menschen sich auffinden in wunderlich zahmem Zustand, verweint und vorläufig nicht tröstlich über einen verlorenen Ring, eine verpatzte Klassenarbeit, einen verweigerten Blick, kräftig noch im Schluchzen, ohne Schutz gegen schlechte Wirklichkeit,

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