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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahl könne keine beste Freundin für die andere tun.
    Wenn die nur begriffe, was denn sie getan hat. Sie war doch gar nicht anwesend diesen Tag seit Morgen.
    11. Juni, 1968 Dienstag
    – Den SPIEGEL laß ich dir nicht ab: sagt der Alte an unserem Kiosk, kaum so bereitwillig von Gefühl wie noch vorige Woche, und wer mit benommenen Sinnen aus der Arbeit anreist, fällt erst einmal herein auf seine griesgrämige Miene. Tatsächlich hat er seine Papierstapel gegen den tröpfelnden Regen abgedichtet mit durchsichtigen Plastikbahnen, mehr Stücke zum Ausstellen denn zum Veräußern. Ihm mag so sein, heute behält er die Sachen selber. Er rauht an seinen Bartstoppeln ein Lächeln auf und spricht, befriedigt: Deine Tochter ist bereits im Besitze desselben!
    Nun Marie etwas mitbringen außer der Reihe, das wird schwer halten. Ihre Modellautos bezieht sie lieber vom Herald Square als vom Oberen Broadway, auch hat ihr Vergnügen daran abgenommen wie die Sammlung vollständiger wurde; der Bentley steht bei ihr doppelt. An der Lexington Avenue versprach ein Herren-Ausstatter, beliebige Sachen auf T-Hemden zu drucken, gewiß war da die Größe 12 X vorrätig, gefehlt hätte nur der Text, denn Marie hält ihren Vornamen für eine erläßliche Ankündigung, MORGEN TEILWEISE SONNIG würde sie der Welt nicht oft versprechen wollen; es wäre ein aufdringliches Geschenk geworden. Eine Scheibe Kassler Braten extra, ein koscherer Guglhupf, europäische Schokolade: wenn ihr danach war, sie wird es zu Hause haben; über die täglichen Einkäufe entscheidet sie. Eine letzte Auskunft wird der quicke Puertorikaner, der manchmal bei der 97. Straße an der West End Avenue die saftigsten Heißen Hunde und das sauerste Kraut in einer Meile Umkreis feilhält; heute hat er sich verzogen, sei es vor kassierenden Polizisten oder der eindringlichen Nässe in der Luft. So bleibt auf den letzten Schritten, in der Tür der Wohnung, vom Mitbringen nur das Wünschen übrig and saying something stupid like: Du Marie. Auch die ostdeutsche Regierung hat Ethel Kennedy kondoliert.
    Wenn Marie erschrickt, es ist am ehesten zu sehen in den Augen. Gegen den Ruck in der Pupille kann sie nichts tun, die niederklappenden Lider hätte sie gern aufgehalten, endlich gelingt ihr eine geduldige Maske. Die Vierjährige noch schob die Lippen vor bei unbilligen Ansinnen, gekränkt schob sie ab zum Eismann mit der fremden Sprache; der hier wird das Gesicht steif über die unverständige Erwachsene und mit dem wiederholten Gedanken, daß sie es hinnehmen muß, gerade von dieser, daß sie sich verhalten muß mit einer, die wird nicht lernen. Für die Mutter verlegen schiebt sie Schulsachen hin und her, sie steht sogar auf im Widerstreit zwischen heftiger Antwort und Nachsicht, höflich sagt sie: Wenn du mir den Namen ein wenig ersparen könntest, Gesine.
    – Es war für deinen Aufsatz: lügt die andere, lahm, leidlich gefaßt auf die Belehrung, daß nicht jeder Aufsatz für die Augen der Erziehungsberechtigten gemeint ist. Aber Marie legt die Nachrichten aus Deutschland auf den Tisch, mit umgeschlagenem Titelblatt, es wird jenen Kennedy zeigen vor Trauerfarbe; nun bringt sie einen jener Abende in Gang, da sitzen wir zusammengesperrt wie in einer zugeschneiten Poststation ohne Pferde, behandeln einander mit Manieren, wie Fremde, und sie sagt:
    Wenn es dir nichts ausmacht.
    Wenn du nicht zu müde bist.
    Für mindestens eine Woche. O. K.?
    Und:
    Hier hast du deine wöchentliche Ration.
    Wie kondolierten die Ostdeutschen der Witwe von Martin Luther King?
    Wie war es im Büro?
    Und:
    In Westdeutschland war eine Versammlung gegen die Notstandsgesetze. Übersetzt du mir das?
    Was meint der Dichter Enzensberger da mit einem Sperrsitz?
    Mit was für Arbeitern will er auf die Straße gehen?
    Was sind das für französische Zustände, die er sich wünscht?
    Und:
    Dmitri Weiszand wollte wissen, ob ich mitfahre nach Prag.
    Darf ich auch Tschechisch lernen?
    Gar nicht streite ich mit dir.
    12. Juni, 1968 Mittwoch
    Regen. Regen. Regen.
    Die Sowjetunion hat Kummer mit ihren sozialistischen Brüdern und Schwestern in der Tschechoslowakei. Einst besaß sie unter ihnen einen Vertrauten, einen Generalmajor, der versuchte im vorigen Dezember einen Militärputsch gegen die Verächter des Heiligen Novotný, zwar vergebens. Seine Auftraggeber mögen ihm den Fehlschlag verziehen haben, auch daß er dann über die falsche Grenze trat. Kaum hassen sie den verlorenen Freund, weil er sich

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