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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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beiläufig an dem ausladenden Küchenfenster, wo sie Frau Erichson bei der Herrichtung des Dinners berät, Blicke ab und an sollen lediglich versichern, daß sie nicht stören wird. Sie spricht Deutsch mit D. E.s Mutter, »Gro-Ma« ist nicht zu hören, »Granny« geht ihr unbefangen über die Lippen. – Warum machen wir ein so großes Essen, Granny?

    – Wie weit bist du jetzt, Gesine?
    – Ja berat du mich. Ich krieg Cresspahl nicht los von den Sowjets. 1947.
    – Du solltest Marie mehr erzählen von denen.
    – D. E., sie kriegt es in den falschen Hals.
    – Sie begreift schon die Russen von heute daneben.
    – Sie ist eine zuverlässige Antikommunistin. Da glaubt sie der Schule.
    – Eine ratlose Antikommunistin, du. In ihrer Sammlung hat sie ein Gedicht aus der Pravda vom 7. Juni, geschrieben von jenem, wie heißt er –
    – Der. Den kenn ich.
    – Den kennst du.
    – Von dem hab ich mal in der New York Times gelesen. Der ging im November 66 zu Besuch bei R. F. K. –
    – Von dem Namen Kennedy kann ich gar nicht genug kriegen.
    – zu dem Lebenden. Zeitgeschichte. Zur Zeit der Wahl, bei der abgestimmt wurde über eine zivile Kontrollbehörde für New Yorks Polizei.
    – The vote of fear. Die Angstwahl.
    – Senator Kennedy hatte eben seine Stimme abgegeben, wer klingelt da im 14. Stock an der United Nations Plaza? Ein sowjetischer Dichter ist es, drei Stunden lang räkelt er sich auf einem Sofa hoch über New York, konversiert mit diesem Repräsentanten des amerikanischen Imperialismus, und was geben sie für ein Communiqué heraus? Der Eine: »Ich habe Vertrauen nur zu Politikern, die verstehen, wie wichtig die Dichtung ist.«
    – Der Senator von New York: »Ich mag Dichter, die Politiker mögen.«
    – Und getröstet zog der Dichter heim, zur Vogelscheuche abgefertigt, Stolz in der Brust.
    – Endlich fällt mir der Name ein. Eugen.
    – Jevgenij Jevtushenko. Du.
    – Der hat wieder zugeschlagen. Womöglich soll es ein Freundesdienst für den Toten sein, nicht mal Marie kommt damit klar.
    – Sag auf.
    – »Der Preis für Revolverschmiermittel steigt an.«
    – Du Antikommunist.
    – Stand so da. Und:
    Vielleicht kann nur Scham noch helfen.
    Die Geschichte kann nicht in einer Wäscherei gereinigt werden.
    Solche Waschmaschinen gibt es nicht.
    Blut kann niemals abgewaschen werden!
    Und:
    Lincoln, verwundet, sonnt sich in seinem Marmorstuhl.
    Was tut Abe Lincoln nachts? War er da nicht in einem Theater? Hör auf Jevtushenkos Eugen:
    Aber ohne dir die Spritzer des Bluts von deiner Stirn zu wischen,
    erhebst du, Statue der Freiheit,
    dein grünes, pudelnasses Frauengesicht,
    und rufst die Himmel an, man möge dich nicht mit Füßen treten.
    – Glaubst du das?
    – Maries Bedenken ist eben: Ob er das selber glaubt.
    – D. E., ich erzähl ihr, was ihr nicht paßt. Von den Zwillingen, die länger in Jerichow herrschten als irgend eine sowjetische Kommandantur vor oder nach ihnen, die traten ja auf wie Herren, nämlich vornehm. Fein. Fein mit Ei. Sie hätten recht gut welche von den Plessens sein können. Gutsbesitzer von Adel, und wie einmal die Plessens verwalteten sie Jerichow. Nicht vor neun gemeinsames Frühstück, beiden wurde vom eigenen Diener serviert, Leinen und Silber auf dem Tisch, Bestrafung für den geringsten Fleck. Um zehn Uhr Ausfahrt zum Rathaus, regieren. Den Bürgermeister hielten die in einer Aktenkammer, da durfte er unterschreiben, in seinem Zimmer saßen sie, auch hinter dem Schreibtisch gemeinsam, Deutsche hatten drei Schritt Abstand zu halten, wie ehedem die Tagelöhner von der gnädigen Familie. Gleichmäßige Laune, niemals Tobsucht, niemals Schnaps. Keinen Schritt gingen die in der Stadt zu Fuß. Brüder waren sie nicht, das wußte Jerichow als einzige private Bewandtnis von ihnen, sogar Ähnlichkeit fehlte ihnen, das Gerücht kaute an ihrem Spitznamen und bekam ihn nicht heraus. Wenn sie einen ihrer Untergebenen bei Deutschen erwischten, ließen sie ihn abführen wie einen Massenmörder, Prügel bekam er erst hinter dem Zaun. Fürchterliche Prügel. Kam einer von den Deutschen sich beschweren, Mining Ahlreep, und wußte nicht Vor- und Vatersnamen jenes freundlichen Sowjetmenschen, der ihr die Uhrattrappe vom Giebel geschossen hatte, so kam die Verleumderin ohne Verhandlung für eine Nacht in die Keller unter dem Rathaus, damit ihr der Name einfiel. Das bekam sie nicht ausklamüsert, sie wurde auch am Morgen ohne ein Wort auf die Straße gesetzt. So ekelten sich die Zwillinge vor

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