Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
den Deutschen. Mit ihnen hörten die nächtelangen Bälle in Louises Staatszimmer auf, eine Entschädigung für die zerbrochenen Möbel und das zerhackte Parkett verlangte sie wohl, nur war ihr die Regimentsnummer des Herrn Wassergahn unbekannt. Pontij hatte manchmal Bonbons für die djewushki in der Tasche gehabt, diese sagten nicht einmal idi sjuda, scheuchten Kinder weg wie Federvieh. Den Zaun vor der Kommandantur hatten sie um zwei Fuß erhöhen lassen, und obwohl sie in der Villa niemand empfingen, errichteten sie davor einen Triumphbogen, den mußte Maler Loerbrocks frisch beschriften zu den sowjetischen Festtagen, auch zu Jubiläen großer Schlachtensiege. Wenn Loerbrocks nicht gestorben ist, kriegt er noch heute auswendig ein Portrait von Jossif Vissarionovič Stalin hin, allerdings nur mit drei Farben und im Format A 2 der Deutschen Industrienormen, denn so mußte er den alle Weihnachten erneuern. Stalin bekam seinen Platz in der Spitze des Bogens, in den wechselnden Sprüchen darunter und auf den Pfeilern war dauerhaft neu die Rede von der Armee und nur von der Armee, so daß ich die vier Fälle von Krasnaja Armija etwas gründlicher im Kopf hatte als die anderer Worte. Am Feierabend, immer noch in faltenloser Uniform, die gebügelten Mützen auf dem Kopf, ritten die Herren Wendennych aus, zu den Rehbergen hin, bei dieser Gelegenheit ohne Adjutanten. Von zehn bis elf hörten wir noch die Schallplattenmusik mit, Tschaikowskij, Mussorgskij, Glinka, Brahms. Das sind nicht die Sowjets, wie Marie sie in der Schule lernt, und es paßt ihr nicht.
– Cresspahl wurde nicht in Fünfeichen festgehalten.
– Das stellt sie sich vor wie eine Arrestzelle in Sing Sing.
– Mit einer genaueren Vorstellung ließe sie dich nicht nach Prag.
– Der Grund gilt erst seit einem halben Jahr.
– Es ist einer.
– Wohingegen du schon als kleiner Junge nicht gelogen hast.
– Immer seitdem, wenn ich durfte. Mit Genuß.
– Marie soll die Russen von heute sehen.
– Die Achtzehnjährigen von 1947.
– Ich helf der Schule nicht! Hab ich Marie nicht erzählt, wie Cresspahl zu den Sowjets kam? es ist mir sauer genug geworden. Jetzt bloß noch den Speisezettel von Fünfeichen dazu, sie wird ihr Lebtag dem Sozialismus mißtrauen.
– Du würdest nicht jener Sister Magdalena Schützenhilfe geben. Marie wäre besser vorbereitet.
– Sie ist viel zu jung dafür!
– Über die Vergewaltigungen, die in New York passieren, weiß sie vorzüglich Bescheid.
– Dafür haben wir dich nun Physik und Chemie studieren lassen. Hältst Wahrheit für einen absoluten Wert.
– Von dir wüßte Marie mehr. Sie verstünde, warum du nun noch einmal auf die andere Seite gehen willst. Nein, das nicht. Sie könnte etwas ahnen.
– D. E., ich kenn noch andere als Damenmoden. Es gilt als nicht chic, das Ansehen der Sowjets zu verkleinern. Solche Gründe fehlen mir.
– Wann ungefähr soll Marie die Lektion denn so nachholen?
– Mit fünfzehn …
– Das Jahr 53 bekommt sie dann zur Volljährigkeit. Dein Ableben dürfen wir ihr erst mitteilen, wenn sie selber auf dem Totenbett liegt.
– Cresspahl gibt auf. Erichson Sieger nach Punkten. Deine Fürsorglichkeit gegen diese Göre ist nachgerade lächerlich!
– Das bin ich ihr schuldig. Gleich bringt sie mir ein Bier. Was du überhaupt für Geschichten weißt.
– Du erzählst ihr von den Lagern. Du machst das so, daß sie nichts versteht als Gerechtigkeit, Treue zum Gesetz, humane Ausführung.
– Dann du.
– Die Schule 1947. In den Räumen der siebten Klasse war nun Jossif Vissarionovič aufgehängt, sehr viel höher als die Bilder des Österreichers. So mußte darunter ein verblichenes Viereck auffallen, jedoch konnte Niemand eine kleine Statur des neuen Führers erwarten. Nur daß der Titel erweitert war. Weiser Führer der Völker, Gütiger Vater der Völker, Generalissimus, Bewahrer des Weltfriedens, Schöpfer des Sozialismus, Hüter der Gerechtigkeit, Im Kreml Ist Noch Licht, Garant einer wahrhaft menschlichen Zukunft. Mit dem Garanten stimmt etwas nicht.
– Alles korrekt.
– Nie hab ich ein Portrait von ihm gesehen mit Blick auf den Betrachter, immer piel kurz seitweg hinunter, als wär da jemand aus der Reihe getreten oder hätte geniest. So, physiognomisch oder anders human, durften die Schüler von ihm nicht sprechen; Lise Wollenberg wurde verpetzt, die hatte lachen müssen über den Scheitel im fülligen Oberlippenbart des Woshd, ihr Schreck war Strafe genug, sie bekam eine
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