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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Fünf in Russisch und eine Fünf in Betragen. Die hatte Grund, sich in acht zu nehmen. Die Schülerin Cresspahl wünschte von den Untertanen des Führers der Völker obendrein ihren Vater zurück, die fiel gleich zweimal herein. Kann das Schusseligkeit sein? Sie lernte brav die neue Geschichte der Erfindungen, etwa wie Marie das Fach Religion, Wissen bloß zum Abliefern. Nicht dem Feudalmenschen Drais von Sauerbronn also war beim Betrachten chinesischer Zeichnungen das Fahrrad eingefallen, sondern einem russischen Bauern, der wurde für die Fahrt vom Ural nach Moskau, 2500 Kilometer, von der Leibeigenschaft befreit. Auch russische Feudalherrscher waren demnach gütiger. Nicht Marconi hatte als erster Signale ohne Draht übertragen, die Funktelegrafie war einem Russen zu danken. Die Vernichtung der Kuntze-Knorr-Bremse durch eine russische wurde in belletristischer Ausführung gelehrt: der würdige moskauer Gelehrte führt seinen deutschen Kollegen in einem Tunnel Bremsversuche vor, und während sein System den Zug sanft zum Stillstehen bringt, stöhnt einer der ausländischen Stümper: Kuntze-Knorr iäst ärleddiggt! Das erste Auto fuhr in Rußland, zwar hatte nicht die Partei das Flugzeug erfunden, sondern ein Schneider aus Minsk oder Tula, russischen Ursprungs war die Apotheke, der Kran, dein caran d’ache, das Telefon, alle Bestandteile der Eisenbahn, von der Stanzija bis zum Passaschirskij und Potschtowy Wagon. Wer aber das lernte, hatte einen Anspruch auf das Fach Englisch, bei Frau Dr. Weidling, die wurde erst im übernächsten Herbst verhaftet.
    – Du hast das Penicillin vergessen.
    – So eine gelehrige Schülerin, die schreibt in einem Hausaufsatz »Ich sehe aus dem Fenster«, was sie durchs Fenster sieht, also den grünen Russenzaun mit Stacheldrahtkrone, darüber das Dach der Kommandanturvilla, im geöffneten Tor einen amerikanischen Lastwagen, mit Schußfanggitter vor den Scheinwerfern, und wenn die Schülerin sich ungeschickt weit aus dem Fenster beugte, konnte sie um die Ecke der Ziegelei herum nach Osten sehen, da ging die Sonne auf, die war so krasnyj wie die Rote Armee. Es war ein recht beliebter Schluß, der Schülerin Cresspahl war es ernsthaft angekommen auf Schmeichelei, diesen Aufsatz gab Frau Dr. Beese unzensiert zurück und verhängte Nachsitzen, da mußte der Aufsatz noch einmal geschrieben werden, mit Blick auf den Schulhof, wo rein gar nichts zu sehen war. Die Beese verschwieg, was die Lehre hieraus war, die Schülerin Cresspahl hätte sie finden dürfen, die kam nach acht Wochen an mit der Nacherzählung einer russischen Novelle, darin erwähnte sie so nebenher »die wilde Natur der Russen«, »die Russen in ihrer wilden Natur«, sie dachte da nur an die Geschichte, in der ein russischer Gutsbesitzer sich einen wilden Bären in einem Zimmer hält und ahnungslose Gäste mit ihm zusammen einsperrt, sie muß blind gewesen sein vor Fleiß, mit dieser Hausarbeit wurde sie zum Direktor geschickt. Ein Sozialdemokrat, Lehrer seit 1925 und ab 1945, der war so entsetzt über das unverständige Kind, er konnte das Unheil nicht einmal erklären. In Person ging er zur Schulsekretärin, lieh eine Nagelschere, schnitt die fünf oder sechs Worte aus, gab das Heft zurück. »Das geht doch nicht, Kind.« Ob das Loch nun übergeklebt werden sollte, mit berichtigtem Text oder unschuldig weiß, solche Entscheidung ging über seine Kräfte, das überwältigte ihn, dazu machte er Bewegungen wie Einer, der ist schon genug mit dem eigenen Ertrinken beschäftigt, nun fragst du ihn nach der Uhrzeit.
    – Das ist nicht wahr.
    – Siehst du. Hingegen Marie soll ich es erzählen.
    – Ist es wahr?
    – Dr. Vollbrecht hieß er. Der, der beinahe nicht Direktor geworden wäre. In der Eröffnungsrede sollte er die Rote Armee als Bringerin wahrer Menschheitskultur begrüßen, seiner Frau waren einundzwanzig Rotarmisten mit Waffengewalt über den Leib gegangen. Sie behielten ihn drei Tage im Landgericht Gneez, dann erzählte er in der Stadt von einer Reise aus familiärem Anlaß, gab schließlich die Verhaftung zu, aber nur als eine »irrtümliche«. Dann hielt er die Ansprache.
    – Nein. Du führst mich an der Nase herum. Täte ich auch. Daß die Neue Schule Puschkin verleugnet hat, es ist nicht wahr.
    – Siehst du. Marie würde dies gerne glauben. Sie wäre noch in einem anderen Vorteil.
    – Daß es wahr ist?
    – Daß es passierte, und ich war dabei.
    – Dat’s all so, as dat Ledder is.
    – Ja, wat sall Einer dorbi

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