Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
einsehen, daß der Bürgermeister bei den Feinden wie den Anhängern des fremden Krieges auftreten kann wie ein Freund gleicher Maßen, der von allen ihre Stimmen haben will für die Zeit nach dem 31. Dezember nächsten Jahres. Es war das erste Mal, daß sie nicht in verkündendem Ton, geradezu bittend sagte: Es ist Sonnabend, immerhin. Laß uns einen Tag der South Ferry machen, daraus.
Also fuhren wir mit der IND , bis wir auf die I. R. T. kamen, und stiegen am Battery Park auf die Fähre John F. Kennedy und fuhren durch den ganzen Hafen bis Staten Island. Unterwegs flocht Marie ihre Haare, den Kopf mehr abgekehrt als sie sonst tut, und ihre Finger waren so langsam, als knote sie da Gedanken ein. Das Band mit den eingestickten indianischen Symbolen zerschnitt sie mit einer Scheibe Glas, die auf dem Bahnsteig bereitgelegen hatte, so konnte sie ihre Zöpfe befestigen. Von Staten Island sind wir mit den Bussen über die Verrazano-Brücke nach Brooklyn gefahren und von da unter der Erde zurück an den Riverside Drive. Jetzt ist es halb sieben, und über den Pallisaden hängt ein gelber Streifen, scharf abgesetzt gegen den bläulich verwischten Oberhimmel. Die Sonne hat ein gelbes Loch. Minuten später verschwimmt die gelbe Zelle in den dunkleren Farben.
Marie weiß von ihrem Bürgermeister John Vliet Lindsay nicht nur den Geburtstag, auch wie seine Kinder heißen und welche Schulen sie besuchen, sie bewahrt von ihm Bilder aus der New York Times, sie hat sich sein Wort angenommen von dem »fun of getting things done«; sie hat ihn unter ihre Freunde gerechnet. Sie sagte etwas, als sie seine Seiten aus ihrem Sammelbuch riß, aber das wird nicht aufgeschrieben, Genosse Schriftsteller. Kannst ja sagen, sie hat vielleicht geheult, solange sie in ihrem Zimmer allein blieb, und danach nicht mehr.
28. April, 1968 Sonntag Wechsel von Winter- auf Sommerzeit
Die Schafwiese im Central Park, 522 725 Quadratfuß, geteilt durch den Mindestraum für eine sitzende Person, 9 Quadratfuß, ergibt einen Platz für 58 080 Personen (einen Rest von fünf Quadratfuß nicht gerechnet); so penibel ist die New York Times. Als Mrs. Martin Luther King eintraf, sei die Wiese nur halb besetzt gewesen. Sie trug zehn Gebote für Viet Nam vor, und Dr. King habe sie bei seiner Ermordung bei sich gehabt, und das zehnte lautete: Du sollst nicht töten. Langer, anhaltender Beifall.
Auf dem Washington Square hat es gestern noch eine Demonstration gegeben, nicht angemeldet mit der Begründung, die Straßen gehören dem Volk. Wer da sich wehrte gegen die Polizei, wurde von vielen Polizisten in Zivil zu Boden geworfen, gestoßen, bekniet, mit ledernen Totschlägern verkloppt, und wer die Verladungen in die Grüne Minna fotografieren wollte, den nahmen sie gleich mit. Es hilft Marie nicht, sie will nicht einmal da etwas versäumt haben.
Vorgestern hat in der Č. S. S. R. ein Arzt Selbstmord begangen, der war unter Stalin Arzt im Gefängnis Ruzyně zu Prag, und der neue Innenminister Josef Pavel sagt aus, er sei von diesem Arzt gefoltert worden. Und amtlich untersuchen wollen sie es überdies. Was die kommunistischen Bruderparteien untereinander verhandeln, die tschechoslowakischen wollen es nun öffentlich machen, und einen »Klub für unabhängiges politisches Denken« haben sie auch noch nicht verboten, nicht einmal die Partei der Sozialisten, die ein unbehindert demokratisches Leben einführen will. Was soll aus dem Land werden?
Cresspahl war nun im dritten Monat Bürgermeister von Jerichow, und er lernte noch immer an diesem Beruf.
Mit einem Spiegelbild konnte er nicht viel anfangen. Wollte er als Bürgermeister von den Bürgern der Stadt verlangen, was von ihm als Bürger verlangt worden war, es paßte nicht. Er wußte, wann er Steuern hatte zahlen müssen, er schlug vorsorglich die Termine lange Zeit vorher an: Gewerbesteuer zum 10. August, Grundsteuer zum 15. August, Einkommen- und Körperschaftssteuer zum 10. September, und so vierteljährlich fort. Leslie Danzmann half ihm aber finden, daß die meisten Mai- und Juni-Zahlungen nicht entrichtet waren, so Mancher in Jerichow hatte schon unter den Nazis nicht gezahlt, unter den Briten abgewartet und wollte unter den Sowjets weder das Fällige noch das Versäumte abliefern. K. A. Pontij wußte da als Auskunft nur den unnachsichtigen Vollzug, gestützt auf einen seiner Befehle und die Ausrede, daß die nicht städtischen Steuern nach wie vor »Reichssteuern« hießen, wenngleich das Reich
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