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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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kampfeslustig mit seinen fernen Freunden, stellte seine Figur dann dauerhaft aus auf dem Sims. Marie sah immer wieder hinauf zu dem nicht athletischen Menschen, als störe er sie. Sie verbot sich Anmerkungen, er betrug sich nicht ungewöhnlich für New York, sie hatte ihm nichts zu verbieten; sie suchte für uns nach einem Platz an einer anderen Stelle.
    Aber die Ränder der Marschstraße waren nun so dicht bestanden, und wenn Zuschauer in die Lücken vortraten, es fühlte sich an wie Drängelei. In das leise Gewirr aus Stimmen fiel von oben das schwere Schnattern der Hubschrauber von Polizei und privaten Sendern, keiner fiel in den Central Park.
    Zehn vor zwölf, und die Parade begann mit einer Gruppe auf Motorrädern. Die Fahrer waren in braune Anzüge mit gelben Streifen gekleidet. The Magnificent Riders of Newark. Ihre Maschinen donnerten nicht (wie die Times zu schreiben nicht umhin kommen wird), sie flüsterten. Wegen des langsamen Tempos mußten die Fahrer sich wieder und wieder mit den Fuß-Spitzen abstützen. Ihnen folgte der Lastwagen mit den Prominenten, bewacht von fünfzig stämmigen Leibwächtern. Marie erkannte auf der Plattform Pete Seeger, und sie winkte ihm zu (Where have all the Flowers Gone; If I had a Hammer; Turn, Turn, Turn). Weil Pete Seeger die Demonstration mitmachte, wurde sie von neuem fast heil für Marie, aber sie war zu bescheiden, gleich hinter Pete Seegers Leibwächtern in die Kolonne zu gehen. Sie ließ noch viele Gruppen durch, und im Kopf überschlug sie ihre Kenntnis von New York mit den Namen der Stadtviertel, die sie vor sich hintrugen. Alle waren fröhlich, wie auf einem Ausflug. Anreißer schrien fröhlich WAS WOLLEN WIR , und die Chöre antworteten mit synkopischem Spaß: FRIEDEN , JETZT . Oder: WAS : FRIEDEN ; WANN : JETZT ! Als sie vom Bürgersteig herunter wollte, zwischen die Gleichgesinnten, kam die Show.
    Die Show war eine Reihe junger Mädchen in vietnamesischer Kleidung, schwarzkittlig unter spitzen Strohhüten. Kleingewachsene amerikanische Mädchen, verkleidet als Frauen Viet Nams. Sie wollten uns zeigen, wen an ihrer Stelle das Land in Viet Nam umbringt. Es war nicht ihre Stelle. Als ob sie hier und jetzt, Central Park West, umgebracht würden, Ecke 101. Straße. Und als ob es ihnen doch nicht ernst wäre.
    Marie hätte mitgehen können, wir hätten einander wiedergefunden; was hat es ihr verdorben?
    Dann haben wir noch die höheren Polizeioffiziere gesehen, die am Rand der nicht breiten Marschsäule mitgingen, einer mit Funksprechgerät, ein anderer mit Akten. Neben Marie auf dem Bürgersteig ein zehnjähriges Negermädchen mit einem Stenoblock, die trug an der Bluse ein Schild PRESSE , und sehr ernsthaft blätterte sie im schon Notierten. Marie wandte sich so, daß das andere Kind ihr hätte eine Frage stellen können, aber das andere Kind wollte sie nicht sehen. Auffällig wenige Schilder im Zug, die einer selbst genagelt und beschriftet hätte. Leute unter Sturzhelmen; in stark abgenutzter Kampfuniform, ihre Schuhe jedoch nach Armeeregel poliert. Die einzelnen Frauen trugen gern Sonnenbrillen; eine davon, in Pepitakostüm, hätte ich (auf einem Foto) sein können. Inzwischen gingen wir auf dem Bürgersteig entlang, wir suchten nach einem Ubahneingang zum Wegkommen, keine gestand es der anderen ein.
    Wir haben noch gesehen einen großen Jüngling aus einer mittelmäßigen Sportschule, das Gesicht wunderlich rot. Er hielt eine klitzekleine Chinesin unterm Arm, tat ermunternd; sie war jenseits aller Maßen und Worte betrübt. (Von fern sahen wir noch einmal den Selbstdarsteller auf seinem Sims aus der Fassade hampeln; er war wie gewünscht von vielen Gruppen begrüßt und beklatscht worden, hob die verschlungenen Hände über den Kopf.) An der 96. Straße waren wir Seite an Seite mit dem unglücklichen Paar, sie trug nun seine Jacke, aber sie konnte ihm immer noch nicht vergeben was er nicht ahnte, jedenfalls nicht vor dem Abend.
    Aber es war nicht zu Ende an der 96., wir hätten noch mitgehen sollen bis zur 72. und in den Park bis zur Sheep Meadow, wo nachmittags die Kundgebung mit den Sprechern beginnen sollte. Mrs. Martin Luther King war erwartet, Pete Seeger war dabei, Bürgermeister John Vliet Lindsay würde kommen. Auf dem Gras sitzen, gemeinsam singen beim Warten, vertraulich mit dem Nachbarn sprechen, über das Wetter, über die Stadt.
    – John Lindsay? sagte Marie ungläubig. – Der stand doch bei Loyalty auf der Tribüne!
    Dann wollte sie nicht

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