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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Straße mit der Amsterdam Avenue muß man stillstehen und die Miethausfronten, den Fahrdamm, den Eckladen absuchen. Hier wohnten einmal vier Kinder, verbündet wenn nicht befreundet, die haben sich von ihren Eltern wegnehmen lassen aus New York, in einen der Vororte, wo die saphirgrünen Rasenflächen nicht wahr sind und nicht die nachgemachte Dorfstraße aus Plaste und Aluminium. Marie versteht einen solchen Umzug nicht, vielleicht sind zumindest die Kinder zurückgekommen auf die Obere Westseite von New York. Nicht heute.
    Die Straßen waren trocken nach dem frühen Regen. Die bläßliche Sonne lieferte Wärme von vorwärts, ausreichend für einen Feiertag.
    Oft auf dem Zickzackweg zwischen den Blocks kamen wir vorbei an Häusern, wie die Scanlons eins retten wollen, einstmals hochmütige Bürgerbuden für ein Leben auf drei Etagen. Einer ganzen Reihe waren schon die Treppen und Fenster ausgebrochen, auch schon welche von den sandsteinbewehrten Genossen ganz und gar. Um die Abrißstellen standen die Türen aus dem Inneren des gestorbenen Hauses, manche angeknackt, durchschlagen, verwittert in verschiedenen Farben, mangelhafte Zäune wie um ein Grab.
    Marie ließ sich nicht verdrießen von den Wunden der Spekulation in ihrer Stadt, sah den Passanten sorgfältig und auf indianische Weise unergründlich ins Gesicht. Wenn sie aber angerufen wurde als Großer Häuptling oder mit dem wiehernden Kehlruf der Ureinwohner, sie verschloß ihre Miene doch nicht wie sonst gegen Fremde. Wenn sie nicht geradezu den Mund auftat, sie lächelte doch zurück. Es waren Bürger New Yorks, mit denen ging sie in eine Richtung. Gleichgesinnte, Freunde des Friedens und der Indianer.
    Pünktlich um elf waren wir am Central Park West, Ecke 101. Straße, wie die Times gesagt hatte, und die Parade war noch nicht da.
    Der Himmel war zugezogen inzwischen, ließ die Sonne unbeständig zwinkern, drohte mit Trübe Regen an.
    Entlang des Damms standen die Leute noch nicht viel dichter als gewöhnliche Passanten, wartend allerdings. Zwischen ihnen liefen die Helfer des Paradekomitees hin und her, wollten »originale« Plaketten verkaufen als Andenken an den Vormittag des 27. April 1968. Marie war enttäuscht über die Begleitung durch den Kommerz. Sie war nicht überrascht, sie wird es erwartet haben; nur fing das Fest ein wenig falsch an.
    Das kostenlose Papier nahm sie, Flugblätter zu Gunsten des Senators Eugene McCarthy, mit Darstellungen von Kriegsgreueln. Auch die Kommunistische Partei verschenkte Extrablätter, aber der Daily Worker bot ihr eine Sprache an wie einst mir das Neue Deutschland, und wir beide verstanden sie nicht genau. Davon flatterte bald viel auf den Boden. Marie behielt ihr Exemplar unterm Arm (which I undertook solely to keep New York City clean), Bürgermeister Lindsay zuliebe.
    Dann sah sie Kinder, die hielten Luftballons über sich, grün und blau und gelb mit FRIEDEN bemalt, aber die Würde ihrer zehneinhalb Jahre ließ nichts zu als wohlwollende Blicke, ein wenig auf die Kleinen herab. Dann kamen Erwachsene mit schwarzen Ballons, die trugen das Zeichen der Atomwaffengegner. Marie stieg herunter vom Parkgeländer und streckte sich, damit sie in ihre Hosentasche greifen konnte. Es kam kein Verkäufer mehr vorbei, sie behielt das Zehncentstück doch in der Faust.
    Sie beobachtete die Polizisten, die Augen indianisch eng unter dem schwarzen Stirnband. Die Beamten von Gesetz und Ordnung standen in kleinen Gruppen an den Kreuzungen, am Rinnstein entlang, vertraulich miteinander. Die Gespräche sahen privat aus. Ab und an machten sie sich die Hände schmutzig, wenn sie ihre Bockbretter vor die Seitenstraßen schleppten, um die Parade vorsorglich einzusperren. Auf dem Fahrdamm lief immer noch spärlicher Autoverkehr, nur die Busse waren schon umgeleitet. Marie wollte wissen, wie viele Demonstrationen ihre Mutter bisher gemacht habe. Die Zahl über fünfzig wollte sie eher glauben als daß wir nicht haben zusehen dürfen.
    – Ihr mußtet mitmarschieren? fragte sie. – Das wollen wir doch auch!
    Im dritten Stock eines Hauses gegenüber kletterte ein junger Mann nackten Oberkörpers auf sein gemietetes Fensterbrett. Er brachte an beiden seinen schmierigen Erkerfenstern ein schabloniertes Plakat an, das sich gegen die militärische Besetzung der Negerviertel wandte. Die Wohngebiete der Schwarzen in der Stadt sind nicht militärisch besetzt. Dann zeigte der Agitator sich mit einem Telefonhörer am Ohr, sprach trotzig und

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