Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
ungern zurück aus seiner schläfrigen Empfindung. Ob nicht die Toten für sich sein sollten, der Störung durch fremde Blicke enthoben.
Im Gegenteil werde jeder Blick die Würde der Roten Armee vermehren! Pontij sagte es freundlich, erklärend. Er ahnte nicht, was Cresspahl ihm sagen mußte; für ihn war dies immer noch eine erfreuliche Unterhaltung, weil praktisch.
Cresspahl schlug den Vorplatz des Bahnhofes vor. Bei der Gelegenheit konnte man das Siegerdenkmal vom Kriege 1870/71 abtragen, und für ein Andenken an diesen Krieg wurde der Platz ja nicht gebraucht. Sicherlich nach dem Raum nicht mit dem Markt zu vergleichen, aber ausreichend für eine Belegung mit zwölf. Cresspahl war mittlerweile wieder seiner Gedanken mächtig, er setzte hinzu: Jeder in Jerichow müsse mal zum Bahnhof, folgerichtig an der Heldengedenkstätte vorbei.
Dies war eines der wenigen Male, da Pontij sein Seufzen nicht unterlief. Er mußte sich aus Bedrängnis Luft machen, und er strich sich noch über seinen schwitzenden Schädel. Es war zu sehen, daß er Jemandem sehr tief im Wort war. Es mochte auch sein, daß ihm die offizielle Politik der Roten Armee gegenüber den Toten von 70/71 noch nicht ausgehändigt war.
Cresspahl schob ihm noch eine Zahl anderer Plätze hin, den Garten des Schützenhauses, eine Abteilung innerhalb des neuen Hauptfriedhofes, eine leichte Erhebung an der Rander Chaussee, von wo die See schon zu sehen war. Pontij lehnte sie allesamt ab, immer geduldig. Dann war verstanden, daß Cresspahl die Toten verstecken wollte, Pontij aber sie ausstellen. Es blieb als Machtfrage.
Cresspahl hatte ausgerechnet, daß auch vom Lande die Toten der Roten Armee nach Jerichow gebracht werden mußten, damit ihre Zahl für die nötige Würde aufkam. Cresspahl wies auf die Friedhöfe des Adels und der Dörfer hin.
Jetzt hatte er Pontij aufgebracht, hoch. Er war etwas röter im Gesicht, und die Stimme saß ihm weiter vorn in der Kehle. Er brachte die Rede auf arglistige Täuschung. Wieder und wieder habe er seinem Burgmister vertrauen wollen, und nun wolle er gerojam Krasnoi Armii Einzelgräber zumuten, womöglich an Weges Rand! So lägen tote Faschiisten in Sowjetunion, an einem Stock mit Helm drauf, wie die Hunde lägen sie da!
Cresspahl wollte dem Russen anrechnen, daß er nicht einfach befahl, sondern es mit Überzeugen versuchte. Er wollte es nicht so weit kommen lassen, daß Pontij auf die Füße schnellte, die Mütze aufsetzte und schrie, bei solcher windloser Hitze. Er erkundigte sich nach dem Termin der ersten Beisetzung.
Pontij befahl ihm, tonlos vor Verachtung, für den übernächsten Morgen vier Arbeiter und einen Steinmetz auf dem Marktplatz abzustellen. Besser fünf, weil vor dem Graben ja die Pflastersteine herauszupicken waren. Es sollten keine von den Strafarbeitern sein, die ihre Nazibindungen mit niederen Verrichtungen abzubüßen hatten, sondern echte, wirkliche, wahre Arbeiter.
Cresspahl dachte an den Befehl zur Einbringung der Ernte, er sagte nichts weiter. Er würde aus Mangel an vorschriftsmäßigen Arbeitern auch Frauen zur Beisetzung bitten müssen, er mußte noch heute abend zu Kliefoth und mit dem zu Alwin Mecklenburg Wwe., Grab- und Ziersteine, den Leuten die Bauart eines Obelisken zu erklären; aber er gab auf. Er hatte den Fremden vor einem Reinfall in die Landesbräuche zurückhalten wollen, oft genug hatte er versucht, ihn einzuführen in die Gegend, die er nun regierte; an diesem Abend mochte er nicht mehr. Es war nicht Müdigkeit allein.
Pontij ließ ihn einen Abzug von einer vielmals gebrauchten Matrize durchlesen. Für Soldaten waren Gedenktafeln aus Granit befohlen, für Offiziere Platten aus Marmor. Die Aufschrift hatte mit Emaillelack in Kokardenrot zu erfolgen. Offenbar hatte die Etappe ihren K. A. Pontij nunmehr erreicht.
Der Kommandant fühlte sich beobachtet, und er verstand, daß der Griff zum Wodka an diesem Abend nicht verschlagen würde. Die beiden konnten schon oft ohne Worte einer in den anderen sehen. Bei diesem Mal vertat Pontij sich und traute dem anderen Feindseligkeit gegen Tote der Roten Armee zu. Weder Bürgermeister noch Bevölkerung wurden zur Teilnahme an dem feierlichen Akt aufgefordert.
Es war ein junger Mensch, der in offenem Sarg durch die Stadtstraße gefahren wurde, neunzehn Jahre alt. Er war auf dem Ramminschen Gut gestorben, kein Gerücht wollte wissen woran. Sein Gesicht hatte etwas Verwischtes, Unbestimmtes über dem Uniformkragen. Er schien etwas Geheimes
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