Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Sechsuhrnachrichten ein.
N. B. C. Sixth Hour News zeigt Flüchtlinge in einem Lagerraum. Das Geräusch von Schüssen. Tragbahren werden durch den Korridor eines Krankenhauses geschleppt. Die Bündel darauf sehen nicht mehr menschlich aus. »Die genaue Zahl der Toten ist nicht bekannt, da die meisten keine ärztliche Versorgung erreichen.« Jetzt läßt die Cresspahl ihr Glas stehen, schreckhaft wie sonst nicht, geht stracks nach Hause, wovor sie sich hatte drücken wollen.
Sie ahnt die zweite Niederlage schon auf der 97. Straße, auf den wenigen Schritten zum verhangenen Riverside Drive. »The fifth horseman is fear«, was soll es denn heißen. Der fünfte Reiter, der fünfte Reitersknecht ist die Furcht. Vier sind es nicht, sitzen die auf Kutschpferden, und der fünfte läuft nebenher? Die Aussage hört sich an nach jenen Leuten, die unter dem Namen Shakespeare geschrieben haben; sie kennt das Zitat nicht. Sie hat ihr Englisch von einer Dolmetscherschule kaufen müssen; für eine Universität war kein Geld da. Aber sie hat ihren Shakespeare doch gelesen, alle zwölf Bände! Kann man eine Behauptung wie die von fünftens Furcht vergessen? Sie wird eben ihren Bacon nicht gut gelesen haben, noch Longfellow nicht, sie hat sie nicht einmal im Schrank. Es geht nicht gut mit der Autodidaktik, eines Tages kommt es heraus. Sie drückt die Wohnungstür nicht zu, sie verläßt sich aufs Zufallen, sie läuft zu den Büchern. Hier steht das Oxford Dictionary of Quotations, siebente revidierte Auflage von 1959. Unter Horseman: ein einziger Verweis, Calverleys Ode an den Tabak. Unter Fear fast zwei Spalten, da hakt der laufende Blick noch nicht beim dritten Mal ein, keine Verbindung mit Reitersknecht und Fünftem. Sie ist so ratlos, sie pfeift auf Selbstachtung, sie sieht auch da nach. Nichts.
In der Stadt New York, sie lebt da seit 1961, zeigen sie einen tschechischen Film unter dem Titel Der Fünfte Reiter ist die Furcht. Die Phrase scheint so geläufig im Englischen, im Amerikanischen, das Buch der Zitate von Oxford braucht sie gar nicht mehr zu führen. Alle wissen es, die Cresspahl nicht. Sie ist nicht nur durch das Prüfungsfach Tschechisch gefallen. Sie hat auch im Englischen Bruch gebaut.
Dann kommt ein Kind aus dem Fahrstuhl, Schulbücher unterm Arm, schließt die Tür hinter sich, leicht verwundert, und sagt in ihrem gedankenlosen, ihrem unbedenklich fließenden Englisch: Du da, Gesine! Wie war es im Kino. Wie war der Film?
10. Mai, 1968 Freitag
Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, sie mischt sich nie ein in Angelegenheiten fremder Länder, morgen schickt sie ihre Deutsche Reichsbahn mit einem Sonderzug nach Bonn, mit achthundert Plätzen für Westberliner, die gegen die Notstandsgesetze protestieren wollen, die Rundreise ist für die Auswärtigen unter dem Tarif. Sie mischen sich nicht ein in die inneren Sachen unabhängiger Staaten, sie veröffentlichen per Zeitung, daß amerikanische und westdeutsche Truppen in die Č. S. S. R. einmarschieren werden zwecks Teilnahme an einem Kriegsfilm; die Botschaft in der Schönhauser Allee streitet es sofort ab, es hat doch in der Berliner Zeitung gestanden. Es sind zwar nur »informierte Quellen«, sie haben den Sachwalter der D. D. R. zu seinen sowjetischen Freunden sagen hören, die aggressiven Akte der Westdeutschen erforderten eine Verstärkung der Warschaupakttruppen an der Westgrenze der Tschechoslowakei. Unter den neuen Truppen wären ostdeutsche. Aber, rede ihnen zu wie einem kranken Pferd, sie mischen sich nicht ein.
Die Kommunisten in Prag allerdings bedanken sich zum 23. Mal bei der Roten Armee für die Befreiung von den Deutschen, und abermals versprechen sie der Sowjetunion die Freundschaft. Und auch die bekamen einen Kranz, die den westlichen Teil der Tschechoslowakei befreiten: auf das zerstörte Denkmal der Amerikanischen Soldaten in Pilsen. Plzeň. Und die Bewegungen sowjetischer Truppen an den Grenzen der Č. S. S. R. in Polen und Ostdeutschland, sie sollen wirklich nur der Übung dienlich sein. Fragt man das Foreign Office in London, so sind sie kaum zu glauben.
Der Herr Stadtkommandant, K. A. Pontij, hatte seinen Jerichowern einen neuen Friedhof verschafft, nun wünschte er für seine Armee einen eigenen.
Cresspahl wünschte dem Herrn Kommandanten, es möge ihm kein Untergebener so unter den Händen dahinsterben.
– Eine kräftige Rasse, die Russen! bekräftigte Pontij ernsthaft. Vielleicht war es nicht genug für das Kompliment von
Weitere Kostenlose Bücher