Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
erfahren zu haben, zu viel für die Jungenstirn, die gar nicht geübten Lippen. Gesine hatte ihn versehentlich zu Gesicht bekommen vor der Kommandanturvilla.
Wenn an einem hellen Morgen fünf Leute auf dem Markt von Jerichow ein Loch machen, und zwei Offiziere mit acht Mann sehen dabei zu, kann solch Platz recht leer aussehen.
11. Mai, 1968 Sonnabend
Aus dem Leben von D. E., genannt Professor Erichson. Abgefragt von Marie.
Er gibt es her mit Widerstreben, fast ist er geniert, wär er dazu imstande. Es ist an dem, er hält sein Leben für eins nach der Regel, zurechtgestanzt von den überschneidenden Scheiben der Maschine Gesellschaft, ein Normstück, nichts zum Erzählen. Nun kann er nicht mit uns an Morgenfenstern beim Frühstück sitzen, Familienleben spielend, und dann einem Mitglied der Familie Auskünfte verweigern, er sieht es ein mit schmerzlichen Aufblicken unter seinen kahlen Brauen hervor, abgründigem Starren ins Pfeifenloch. Wenigstens will nur das Cresspahlsche Kind eine Probe, die andere hat sich die Zeitung vors Gesicht gestellt, die liest. Die versteckt ihr inniges Behagen an der Falle, in der unser listiger Fuchs nun sitzt. Nicht lachen.
Als Kind hatte D. E. einen Scheitel zu tragen.
Es ist nicht eben viel, aber Marie, mit den Knien auf ihrem Stuhl, greift ihm ins Haar und teilt den grauen Wulst in eine dicke Wolke und einen winzigen schmalen Abhang über dem einen Ohr. So ungefähr? Er nickt, nicht glücklich. Beide sehen rasch auf den Rand der Zeitung am anderen Ende des Tisches, sie hat sich nicht bewegt.
Das ist ein Kind aus Mecklenburg, ein wenig schon sichtbar, und fast alles hat er nicht angefangen wie wir.
Geboren im Jahr 1928, aufgewachsen in Wendisch Burg. Wendisch Burg, wer weiß nicht wo es liegt; bei Jerichow nicken die Leute zu rasch und suchen heimlich in der Gegend von Genthin, nicht bei Lübeck und an der Ostsee. Nie eine Vorderstadt, dies Wendisch Burg, hinwiederum beileibe nicht ritterschaftlich oder unter dem Dominium der Herzöge von Strelitz, sondern Kollegin der Hanse von Anfang an. Bis zum Ende des Kriegs hielten da Schnellzüge!
Aus deinem Leben, D. E. Die Reichsbahn genügt uns nicht.
Im Nordosten von Wendisch Burg hatte die Reichsbahn einen Verteilerhof für den Güterverkehr mit dem Ausland ins Land gerissen. Da kamen bis zum Ende die Wagen mit dem Erz, das die Schweden für den Krieg schickten, und wurden umgeleitet nach Westen, um Berlin herum. Dahin schickte die Strecke Königsberg-Stettin ihre internationalen Einkünfte, später das Raubgut aus Polen und der nördlichen Sowjetunion, auch Gefangene, für die Lager bei Berlin. Über das weite, überall mit Zugbewegungen bestreute Feld führte eine Hochbrücke, mit einer schmalen Kante für Fußgänger. Da stand ein Junge und ließ sich überfallen von den schweren Wolken Kohlenrauchs, von dem unter der Plattform hervorgedrückten Schnauben des Doppler-Effekts. Ein schmalköpfiges, munteres, nicht recht faßliches Kind. Mit einem Scheitel (blond). Heller Bleyle-Anzug und dunkelbraune Strümpfe. Begabt, anläßlich Familienfotos zu schielen.
Sohn eines Haarschneiders, Sproß der eingeführten Firma Erichson, ff. Frisuren für Damen und Herren, an der Alten Straße von Wendisch Burg, beim Krug zu den Drei Raben. (An der Straße Adolf Hitlers.) Das Kind wollte nicht nach den Schularbeiten die Haare auf dem grünen Linoleum des Salons zusammenkehren, nicht einmal als sie kriegswichtiges Material geworden waren, dafür war die jüngere Schwester da. Vater Erichson wollte herrschen über mehr als eine Familie und hatte sich gleich 1939 zur Wehrmacht gedrängt, 1940 nahmen sie ihn. Der Junge ließ sich nicht viel sagen. Ging zu seiner Eisenbahnbrücke, auf den Untersee.
Die Mutter vom Lande, lose verwandt mit den Fischer-Babendererdes in Wendisch Burg. Die wollten das Kind abhalten vom Aufstieg in die Einbildungen des Mittelstands, schnitten sich das Haar selber und auch dem Jungen, damit Oll Erichson pusten konnte über die Schändung seines geschäftlichen Ansehens. Die erste Flucht von zu Hause, von dem hochnäsigen Stadthaus zu den Schilfdachkaten am See. Noch der erwachsene D. E. dankt der Verwandtschaft, daß er sich nicht besser vorkam als sie, bloß weil er aufs Gymnasium gedrängt war; lernte sein Latein und ging nachts mit zum Fischen. Wie man Teer kocht. Wie man ein Ruderboot anstreicht mit dem heißen bittrigen Teer. Die Trauer über einen Hecht, der mit dem weißen Bauch nach oben im Rohr schwimmt.
Weitere Kostenlose Bücher