Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
nicht synchronisiert, mit Untertiteln. Sie lernt jetzt an der Sprache seit einem halben Jahr, sie will eine Prüfung.
Im Baronet an der 59. Straße, gegenüber dem Kaufhaus Alexander, an einer hartnäckig totgesagten Ecke New Yorks, in einem von drei neugebauten Kinos zeigen sie den Film The Fifth Horseman Is Fear, made in Č. S. S. R., die Vorstellung beginnt um 4 Uhr, die Leute schämen sich nicht und nehmen zwei Dollar, in der Raucherabteilung ist ein Eckplatz mit Fluchtmöglichkeit, nun prüft mich.
CARLO PONTI PRESENTS :
In Prag, während der deutschen Besetzung, wird einem jüdischen Rechtsanwalt ein Bursche aufgeladen, der hat eine Verletzung, die dürfen die Deutschen nicht sehen. Dr. Braun ist angekommen in einer Dachkammer, in einem abgestoßenen staubigen Mietshaus, die Aussicht ist nicht lieblich, und weiter wird er kaum kommen. Er hat nicht nur den Verwundeten am Hals, er muß auch im kahlgeräumten Büro der Jüdischen Selbstverwaltung von Prag sitzen und in das Telefon sagen: Ano. Ja, zuverlässig, tapfer, ohne Hoffnung. Sein Gesicht leert sich unterm Zuhören. Was er sagt, versteht die Cresspahl gelegentlich klar, aber nicht immer im Zusammenhang, der Blick rutscht ihr auf die widerlich hilfreichen Untertitel. Jetzt hat sie noch zu tun mit den Unterschieden zwischen Original und Übersetzung. Herr Braun sucht in der Stadt nach einer Unterkunft für den Verwundeten. Immer wieder stehen im Bild Möbelwagen mit der deutschen Aufschrift KIRCHENBERGER ; warum mag das Publikum schließlich lachen darüber? Da gibt es die Bar zur Verzweiflung, üppige Trinkerei in festlicher Kleidung, Tanzen zu mickrigem Jazz, womöglich Rauschgift. Es sind auch Juden da, sie können nicht helfen. Eine Einstellung beginnt mit Duschdüsen, die nach gewöhnlichem Gebrauch aussehen und den Zuschauer plötzlich wegschicken zu denen in Auschwitz, aus denen das Gas kam. Es sollen doch Duschen sein zum Waschen, denn wenn die Nazi-Armee ein Bordell mit Jüdinnen betreibt, sollen sie vorher gereinigt sein. Sie sind nicht seit langem Huren, einst waren sie bürgerliche Töchter, gute Gesellschaft von Prag. Die Alternative ist der Transport ins Gas. Noch eine Alternative ist ein geschickter Schnitt in die Pulsadern, Dr. Braun sieht da jemand über eine Tote gebeugt. Ist es nicht nur der Versteckte, will er außer dem noch Morphium kaufen? Nicht verstanden. Die Gegenschnitte mit Szenen aus dem Prag von heute, woran sollen sie erinnern? an das Verhalten der Einheimischen unter den Nazis? an das Vergessen? Manches bleibt haften, wenn das Sprechen nicht stört: der Junge auf dem Fahrrad in der Vorstadtstraße, der das Auto der Deutschen vor der Haustür sieht. Der Beginn der Sequenz am ähnlichen Punkt, die vorbereitete Erwartung, die getäuschte. Aber, geht aus dem Originaldialog hervor, daß der Rechtsanwalt mit seinem abgebrochenen Anruf die Haussuchung am zweiten Tag der Handlung auslöst? Sagt Fanta in der Kellerszene tatsächlich: »Ich habe es getan, es ist meine Pflicht«? Fanta mit seiner Kriecherei, seinen gestapelten Schulungsbriefen. Die Hauswartfrau, die ihre Kaninchen verteidigt; überdies muß sie schwerhörig sein. Die Musiklehrerin mit ihren Gesprächen gegen Bilder an der Wand; sie ist nicht leicht zu glauben. Eine Schlachtersfrau, die in einem fort summt; obendrein gibt es einen undeutlichen Helden, mit finster entschlossenem Blick am Treppenaufgang. Wenn die deutsche Polizei in Prag einen anonymen Anruf bis in ein bestimmtes Haus zurückverfolgen kann, warum dann nicht bis in den bestimmten Apparat? Am zweiten Morgen ist der Verwundete aus der Dachkammer entfernt; von wem? Am Schluß des Films ist zwischen Dr. Braun und dem Chefpolizisten die Rede von einer »Konfrontation«, die bevorstehe. Der Untertitel sagt »ein kleines Gespräch«. Das runde Treppenhaus, die Blicke der Kleinbürger auf die Leiche. Ist also der Verwundete noch im Dachboden versteckt, nur an einer anderen Stelle, und will Dr. Braun ablenken von dieser Möglichkeit, indem er sich umbringt? Fragezeichen. Aus. Ende. Konec.
Die Prüfung nicht bestanden.
Die Cresspahl sitzt in der Bar des Hotels Marseille, eingeführt seit Jahren, Mitglied des Mediterranean Swimming Club, eine solche Dame wird Mr. McIntyre auch ohne Begleitung bedienen. Es würde ihm ein Gespräch über das wolkige Wetter, im Mai! nichts ausmachen. Aber diese Mrs. Cresspahl sitzt so benommen da, als sei ihr etwas Unbegreifliches zugestoßen, die läßt man in Ruhe. Schaltet die
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