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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die feindlichen Bomber schon in zwanzig Kilometer Entfernung, übertrug die wandernden Zielhöhen selbsttätig über das Flakrichtgerät auf Kanonen und Werfer, die sich heftig ruckend einrangierten, wie von Unsichtbaren gesteuert. Die Maschine tötete, man brauchte sie nicht zu berühren. Aber es hatten doch Offiziere versucht, Hitler zu töten, seitdem war die Großkampfbatterie eingezäunt, mit Schlagbäumen gesperrt, ein Gefangenenlager. Sie mochten noch so viele Menschen und Fluggeräte in kleine Stücke schießen, die kamen über dem Feld herunter wie harter heißer Regen; Berlin brannte doch. Im Januar 1945 vertauschten sie ihm die roten Spiegel des Flakkanoniers mit den schwarzen und kommandierten ihn an die Oder; unterwegs desertierte er.
    Dem Mädchen aus Fürstenberg zuliebe? Gewiß, Marie. Nur, Oll Erichson war seit dem Februar 1942 vermißt, die Mutter saß allein mit der Schwester in Wendisch Burg. Er mußte da pünktlich ankommen, wenn Sokolowski fertig war.
    Der Sieger von Berlin? Der gestern gestorben ist? Der. General, Kommandeur der Sowjetischen Truppen in Deutschland, Marschall und Held der Sowjetunion, Direktor der berliner Blockade, 1897-1968. Der keinen amerikanischen Sieg in Viet Nam für möglich hielt, es sei denn mit Atombomben, dem Dritten Weltkrieg.
    Der Fahnenflüchtige wartete in einer gräflichen Försterei am Obersee, sechs Kilometer von Wendisch Burg. Das Haus war voll mit Auswärtigen. Eine Panzergruppe der S. S. machte die Gegend unsicher, plünderte die letzten Vorräte, griff sich die Männer im wehrpflichtigen Alter. D. E. saß da viel in Bäumen. Dann, als die ersten Sowjets ankamen auf ihren tiefgehenden Pferdekarren und Nachschau hielten, mußte nicht D. E. sich verstecken, sondern Wache halten. Er saß da auf einer Schreibtischkante am Fenster und beobachtete den Weg, der am Wald entlang nach Wendisch Burg führte. Sobald er Rote Armee sah, mußte er durchs Haus laufen und die Frauen warnen, damit sie durch die Hintertüren in ein dicht verstrupptes Gehölz liefen. Er starrte nicht unaufhörlich auf den Weg, er verließ sich auch auf seine Ohren. Es stand umher reichlich herrenloses Gepäck von denen, die sich im Wald erhängt hatten, und in einem Koffer hatte D. E. einen Sonderdruck von Albert Einsteins Bemerkungen in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1915 gefunden, die jüdische Physik. Er las sie so langsam wie früher nichts in seinem Leben; nebenher horchte er auf Hufschläge, Wagengerassel. Beim fünften Mal mußte er sich eingestehen, daß er die Theorie von der allgemeinen Relativität wohl auswendig lernen konnte, kaum aber sie vertraulich begreifen. Er stieß mit dem Denken an eine stumpfe Sperre, es tat geradezu weh. Manchmal wurde aus der Anstrengung unversehens die Einbildung von Fliegen, mühelose gleitende Bewegung. Dann kollabierte der Autopilot, und für den Absturz war die Erklärung nicht eindeutig. D. E. war noch nicht achtzehn Jahre alt und mußte sich eingestehen, daß es in der Wirklichkeit eine Grenze gab, über die hinaus konnte er nicht denken. Daß dies sein Leben sein würde. Als ein Talent, seinetwegen, jedoch ein kleines. Mitte Mai kam über den See das Gerücht, die Rote Armee würde das Gymnasium von Wendisch Burg wieder öffnen und unter die Direktion von Sedenbohm setzen; er machte sich auf den Weg. So verfehlte er seine Schwester, die zu ihm hatte fortlaufen wollen.

    – Die Wache auf der Schreibtischecke im Wald, das war wegen der Vergewaltigungen? fragt Marie. Sie kniet nicht mehr dicht bei D. E., sie hat sich zu einem Abstand zurückgelehnt. Die beiden können einander beobachten wie in einem Wettkampf, nicht nachgiebig, nicht erbittlich. Der Ältere nickt verdrossen, er hätte nun wohl gern Hilfe von der anderen Cresspahl. Die faltet ihre Zeitung weg, auch sie betrachtet ihn, ein wenig neugierig. Wenn du mit uns Familie machen willst, versuch dich auch in Erziehung, D. E.
    – Es war: sagt D. E. in einer ordentlichen Art: wegen der Vergewaltigungen.
    – Das war so deine Arbeit da.
    – Dafür stand ich in Kost und Logis.
    – Und die Förstersleute hatten Verwandtschaft in Fürstenberg, von denen war ein Mädchen untergekrochen im Wald bei Wendisch Burg.
    – Wer hat das nur aufgebracht von meinen Affairen! Ihre war es doch auch!
    – Und mit wem ist hinwiederum jene verheiratet?
    – Mit einer chirurgischen Klinik in Hamburg, damit du es weißt.
    – Es war ein gefährlicher Weg für sie gewesen, wenn

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