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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Midlands ums Leben gekommen. Cresspahl hatte den Zettel aus Lübeck noch nicht lange, da geriet er mit K. A. Pontij über den Befehl zur Einbringung der Ernte in einen Streit und in eine lange Nacht.
    – In eine betrunkene Nacht.
    – In einen Zustand, nicht schwimmend, verankert an einen Gedanken, der immer zunahm an Geräumigkeit. So daß sie gegen Morgen kaum noch tranken, einander nur nach langer Zeit antworteten, halbstundenweise. Dabei sagte Pontij vergeßlich, seufzend, sein Sohn sei im April 1945 in Deutschland gefallen.
    – Und Cresspahl erzählte von dem Sohn in England, den er durch die Deutschen verloren hatte.
    – Nein. Es waren zwei Worte, die bekam er nicht wieder aus dem Gedächtnis, es waren seine beiden besten Worte im Russischen: Nje daleko.
    – Das reichte? Daß Pontijs Sohn nje daleko gefallen war?
    – Das war für eine Weile genug. Nje daleko. Nicht weit von Jerichow.
    24. Mai, 1968 Freitag
    Seit dem 1. Januar 1961 23 500 Amerikaner tot in Viet Nam. Was das Militär so leichte Verluste nennt. Die Opfer unter den Einheimischen sind nicht zusammengezählt.
    Das Parteipräsidium der tschechoslowakischen Kommunisten hat den Zeitungsredakteuren, Verlagsleitern, Intendanten und Rundfunkkommentatoren etwas ausrichten lassen: Nicht immer von den Verbrechen der Sowjets in den frühen Jahren reden. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nicht kränken. Über den neuen Klub K. A. N. hinweggehen. Das Parteipräsidium will den Nachrichtenmedien nicht etwa Befehle erteilen. Der Führung genügt der Glaube, ein guter Kommunist verstehe die Notwendigkeit einer Eigenzensur, wenn Gefahren drohen »sowohl von der Linken wie der Rechten«.
    K. A. N. Klub Angažováných Nestraníků. Auch im Englischen verstehen wir es ungefähr: Club of Committed Nonparty Members. Wie hieße das deutsch? Eine neue Partei, festgelegt darauf, daß ihre Mitglieder in keiner Partei sind. Bund der engagierten Parteilosen? Es könnte auch die Linke ohne Heimat sein, neu behaust.
    8 p. m.: Dr. Laszlo Pinter, Ungarische Delegation bei den Vereinten Nationen, spricht im Church Center, 777 U. N. Plaza, Gast der Amerikanischen Gesellschaft für das Studium der Deutschen Demokratischen Republik. Thema: »Die Abrüstung in Europa und die beiden deutschen Staaten«.
    Auf einen Tisch neben der Tür sind 99 Cent zu spenden, also nach Lust und Liebe mehr. Da lassen wir uns einen Cent herausgeben, bei verlegener Gegenwehr des Kassierers, wir wünschen diese Münze als Andenken. Die Drucksachen auf den Stühlen geben die Adresse der Gesellschaft an: 370 Riverside Drive. Das ist an der 109. Straße, und gewiß hat Marie in jenem Haus schon Kinder gehütet. Es ist eher ein Haus zum Wohnen.
    Viele der Gäste sind alt, scheinen auf scheue Weise miteinander vertraut. Eine Versammlung von Angehörigen der Partei zu Gast bei einer Versammlung nicht der Partei. Fremde sind nicht sicher vor erstaunten, prüfenden Blicken, als seien sie nicht eingeladen.
    Der erste Sprecher hebt hervor, daß Vertretern der D. D. R. das Visum zu einem Besuch bei den Vereinten Nationen abgeschlagen wurde. Markiges Amerikanisch. »My-self«, etc.
    Der zweite Sprecher beweist in leisem, geschwindem Professorenton, daß das Studium der Deutschen Demokratischen Republik erforderlich ist aus Gründen der Kultur, des Friedens, der Verständigung.
    Der ungarische Gast ist ein hochgewachsener, prallfleischiger, rotgesichtiger Mann von vielleicht 35 Jahren. Engrahmige Brille, dunkle kräftige Haare. Sein Sprachlehrer hat ihm das Nasalieren abgewöhnt, – promissink! sagt er. Viel versprechentt. Er sagt: Jurópi-en, die Schule stand doch eher in Moskau. Er beginnt mit den alten hellenischen Sagen, mit Kreta, Europa als Wiege der Ideen und des Kolonialismus. Zwei Weltkriege. Deutschland ist geteilt. N. A. T. O. Warschauer Vertrag. Dies ist nicht meine amtliche Meinung. Bitte zitieren Sie mich nicht.
    Über Wirkungen der Atombombe. Nicht der Gruselfilm, als den der Bildschirm sie zeigt. Sehr, sehr wichtige Faktoren. Der versuchte Putsch von 1953, der nicht erfolgreich war: schnippischer, hochfahrender Ton.
    Immer wieder die Feuerklingel auf dem Flur.
    Donauföderation. Rapacki-Plan. Dies führt mich zu der deutschen Frage. What do we have in Germany? Fünf Divisionen der N. A. T. O., eine führende Funktion im atomaren Planungsstab, keine Verwirklichung der Potsdamer Verträge. Der junge Mann ist nicht festgelegt auf Zigaretten von zu Hause, er raucht eine hiesige Marke,

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