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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Tatsächlich stöberten sowjetische Posten in der nächsten Woche öfters unsere Zimmer durch, die warteten auf ihn in Jerichow. Der Hühnerstall war nicht schlecht zum Schlafen; die Decke hatten sie ihm gelassen. Nur daß er sich anfangs stieß an den niedrigen Stangen, und der Gestank des alten Kotes wachte an der nächtlichen Feuchtigkeit wieder auf. Ein saurer, in die Kleider dringender Geruch, die Hinterlassenschaft von drei Generationen Huhn; dennoch fanden die Sowjets ihren Gefangenen am Morgen schlafend. Sie fuhren nun weiter in einem stinkenden Jeep, von Regen eingesperrt mit dem Geruch, und sie machten alle Späße, die ihnen einfielen zu Huhn und Hahn. Cresspahl bekam einen Klumpen Brot, einen Schluck Wodka, Machorka, wie ein Genosse unter anderen auf einer Ferienreise, nur daß er allein das Ziel nicht kannte. Das Ziel waren die Keller unter dem Landgericht Gneez; seine Begleiter nahmen Abschied mit aufmunternden, zwar vorsichtigen Schulterschlägen. Seitdem meinte Cresspahl, daß in der Roten Armee eine Haft nicht als Schande galt, allenfalls als ein Pech, es kann Jedem passieren. Viel Glück wünschten sie ihm. Damit begann die erste Phase.
    – Über seinem Kopf gingst du zur Schule.
    – Das Lyzeum in Gneez war eingerichtet als Lazarett der Roten Armee, die jüngeren Klassen wurden in die Heilig-Bluts-Schule getan –
    – in eine Kirchenschule. Wie ich!
    – eine städtische Schule, benannt nach einem Kloster und einer Kapelle zu Ehren der feierlichen Judenverfolgungen von 1330, längst weggebrannt. Von den Resten jenes frommen Innenhofs zum Bahnhof mußte ich nur zwei Straßen übereck gehen, dann war ich bei meinem Vater und wußte es nicht. Ich sah nur das Denkmal für 1870/71, schwarz glänzend wie eine frisch geputzte Lokomotive, und die beiden roten Fahnenzungen, die dem Amtsgericht aus dem Dach wuchsen. Dorthin brachte deutsche Polizei die Lebensmittelschieber, Besitzer von Waffen, die bei der Juli-Registrierung verhafteten Angehörigen der Wehrmacht, Jungen unter Werwolfverdacht; nie ging mir auf, daß Cresspahl unter dem Haus eingesperrt sein konnte. Das wollte die Sprache so, Niemand mußte es mir eigens sagen: wen die Sowjets hochnahmen, der mußte mit bis »nach Sibirien«.
    – Jetzt geht das los mit den Folterungen, der Wasserzelle, der Hungerkur.
    – Cresspahl kam es vor, als hätten sie ihn nur zur Aufbewahrung geholt und dann vergessen. Die Schließer reichten ihm zweimal am Tag Essen in die Zelle, manchmal auch zu Abend, Brot aus ihrer Feldbäckerei, Fischsuppe aus Wasser und Dorschköpfen, Reste vom Mannschaftsessen. Wir lernten in der Schule russisch schreiben und sprechen, aber Charlotte Pagels mochte ein Buch aus deutschen Heeresbeständen benutzen und erklärte uns die Kasche als Kohlsuppe,
    shtshi i kasha
    pishtscha nasha

    und es war doch Grütze aus Buchweizen oder Grieß mit Marmelade oder ein paar Fäden Fleisch, nach der mein Vater im Gefängnis die Tage anstreichen wollte, hätten sie ihm einen Kalender erlaubt. Beim Aufschließen der Zelle hatte er militärisch an der Wand zu stehen, den Hinterkopf angelegt, damit er vom Gang nichts sah. Machte er das nach der Vorschrift, reichten sie ihm die Schüssel. Sprechen hörten sie nicht gern. Sie nannten ihn otjez und durak, Vater und Dummkopf, beides nicht im Bösen, und allmählich lernte er. Die Schriften und zeichnerischen Darstellungen an der salpetrigen Wand waren offenbar gezählt, der vorhandene Bestand durfte nicht vermehrt werden, also hatte Cresspahl für das Anlegen eines Kalenders einen Tag Essensentzug verdient. Er fand da Monatstafeln aus dem Frühjahr 1945 eingeritzt, letzte Bemerkungen vor dem Abtransport nach Bützow-Dreibergen, die Noten zur britischen Nationalhymne mit lästerlichem Text unterlegt, Hakenkreuzchen mit Beschwörungen des Schlachtenglücks, das durfte bleiben. Es mochte einmal die Zelle Dr. Semigs gewesen sein, von dem fand er nichts. Damit er etwas lernte über heimlichen Besitz, rissen sie ihm von Zeit zu Zeit den Strohsack auf, streuten die Füllung durch die Zelle und lobten ihn wie ein Kind, wenn er daraus bis zum Abend eine neue Matratze gebaut hatte. Im Dezember fiel auf, daß er zitterte, sie steckten ihm ein Thermometer in den Mund. Was es anzeigte durfte er nicht sehen, mit dem nächsten Essen bekam er eine Decke. Widerlicher als die Kälte war der Mangel an Licht, das kam nur wenige Stunden durch einen konisch verengerten Schacht, der unter Gitterstegen auf der Rückseite des

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