Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
mit zusammengezogenen Brauen; ihm war der Anlaß für solche Umzüge nicht entfallen, er hielt ihn bloß noch für vergangen, demnach undiskutabel, zumal er eine Unsauberkeit in der säuberlichen Schreiberei verursachte. Auch hielt Herr Wassergahn unsichere Dienststunden, so viel er auf adrettes Wesen gab, zwei Tage Arbeit in der Ernte gingen verloren. Pontij richtete sich auf 3224 hungrige Untertanen ein, zum 1. August kam Cresspahl mit einem Antrag auf 3701 Lebensmittelkarten. Geduldig, lehrhaft und drohend verbot Pontij seinem Bürgermeister die Unsitte, jeden hergelaufenen Flüchtling in die Meldekartei zu nehmen und mit einem Recht auf den Stempel der Kommandantur auszustatten. Die »illegalen Zugänge« mußten ihm in Listen zu zwanzig Häuptern vorgelegt werden, er war sparsam mit Genehmigungen, er schob ganze Familien ab aufs Land, mochten sie arbeitswillig sein oder nicht. Inzwischen faßte er seine Bevölkerung von einer anderen Seite und ließ sie registrieren nach der Arbeitspflicht, in einer abgeteilten Kartei, deren Ergebnisse gleichwohl in die Kartenlisten überführt werden mußten. Nach einer Weile wurden die Umrisse von Pontijs Wirtschaftsmacht verwischt durch die Unterschiede zwischen Bürgerrecht, Recht auf Aufenthalt, beantragter Neu- oder Wiedereinbürgerung, und Ende August verfügte er neuerlich eine Eintragung sämtlicher Einwohner. Mitzubringen waren nun schon zwei seiner Dokumente, dazu die Kennkarten und die Geburtsurkunden, und für ein Fernbleiben drohte er mittlerweile Verhaftung an oder Ausweisung aus der Stadt. In der gleichen Woche suchte er mit einem Befehl nach den Personen der früheren deutschen Armee vom Majorsrang an, ebenso nach ehemals in der Rüstung Beschäftigten, denen drohte er mit den Kriegsgesetzen. Das war die Gelegenheit, bei der Ic Kliefoth mit allen Dienst- und Militärpapieren nicht verhaftet wurde, wohl aber Pächter Lindemann, der sich der Registrierung als Hotelbesitzer entzogen hatte, weil die Rote Armee den Lübecker Hof in eigene Regie genommen hatte. Leslie Danzmann und Cresspahl arbeiteten in den Nächten an der Generalkartei, die Pontij sich in die Ziegeleivilla wünschte, und wenn sie nicht bis zum 1. September fertig wurde, so lag es am Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der zum selben Termin die Registrierung aller männlichen Personen ab 60 Lebensjahren, aller weiblichen ab 55 wünschte, aller Hochschulabsolventen im beliebigen Alter, und dies wiederum bei Sperre der Lebensmittelkarten und Ankündigung von Haft wie Geldstrafe. Unter den Flüchtlingen mochte es einige geben, die wußten ihr Vorleben nicht gern in Pontijs Tresor abrufbar, denen tat die Zeit leid, die sie mit den Registrierungen verbrachten statt mit Anstehen vor den Läden oder mit Arbeiten; die suchten sich früh einen Platz auf einem sowjetischen Gut, in einem Dorf fern von Jerichow.
Die unermüdliche Zählung von Haupt und Gliedern, von Greisen, Kranken, Kindern und Versicherungspflichtigen half, aber nicht sie allein machte Jerichow für viele Flüchtlinge unsicher. Die Vorräte der Stadt waren aufgegessen. Die Ernte war am Ende unvergleichlich rasch hereingekommen, in einzelnen Beuteln mit Weizenähren und Kartoffelsäcken, auf privaten Ausflügen in der Nacht. Was die Einheimischen nun noch übrig hatten, würden sie im Winter nicht teilen. Es war überhaupt nicht Arbeit vorrätig in der Stadt, also das Recht auf die Karten gefährdet. Die vertriebenen Bauern gingen zuerst. (Amtlich durfte nicht mehr von »Vertriebenen« die Rede sein, nur von »Umsiedlern«.) Wer ein Stück Land wollte aus dem Fonds enteigneten Landes, mußte sich scharf beeilen mit der Winterbestellung. Die Papiere, die K. A. Pontij und Cresspahl jedem Flüchtling in nur drei Monaten zusammengestellt hatten, waren eine Pracht in den Augen ländlicher Kommandanten. (Auch die Bezeichnung »Flüchtling« war im sprachlichen Gebrauch nicht mehr zugelassen.) Dort waren die Städter inzwischen weggelaufen zu städtischen Berufen, und neue Arbeiter willkommen. In der Nähe von Kartoffelmieten, bei einem Lohn in Naturalien war der Winter vielleicht zu überstehen. Da waren viele Gründe, aus denen Leslie Danzmann für Umsiedler Abmeldungen schreiben mußte, aber die Bürger wollten es erst einmal Cresspahl anrechnen.
Es war unter Cresspahls Regiment, daß die Schulen wieder Unterricht hielten. Seit dem ersten Oktober waren die verwilderten Kinder endlich beschäftigt, und ein Roggenbrötchen bekamen sie
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