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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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aus dem Laden getrieben wie ansteckendes Vieh, jede seiner Demutsbewegungen fängt Don Mauro mit vorschnellendem Oberkörper und zischenden Beschimpfungen auf, behende die Beine versetzend, bis dem Opfer die Flucht auf den Bürgersteig gelingt, der Bettler, der Versager, der Schmarotzer, – you bum! you dirty bum!
    Kaum atemlos tritt Don Mauro vor die verbliebene Kundin hin, ohne Triumph, nur der sachliche Geschäftsmann, dem nichts geschenkt wird. Der Junge fährt zur Seite wie von zwei Händen gestoßen. Mürrisch, warnend, eilig knurrt Don Mauro: Yes, madam.
    Er kennt diese Kundin, er weiß was sie kauft. Jetzt entschuldigt sie sich. Sie hat sich geirrt. Sie braucht in diesem Laden nichts.

    – Willst du dir das Rauchen abgewöhnen, Gesine?
    – So nicht.
    – Willst du so das Wirtschaftsgefüge ändern in der ganzen Stadt New York?
    – So nicht, Marie.
    – Willst du jedes Mal zehn Blocks weiter gehen, zum nächsten Don Mauro, Don Fanto, Don Alfonso?
    – Nein.
    – Du gibst den Bettlern, du nennst es privat.
    – Ich weiß noch, Marie.
    – Du hast mir beigebracht, es ist falsch.
    – Nein.
    – Doch. Du hast dich verraten, Gesine.
    22. Mai, 1968 Mittwoch
    Die New York Times, in ihrer Bildung, sie deutet uns ja nicht nur aus, was Charles de Gaulle gemeint haben könnte mit dem beschmutzten Bett seiner Nation. Umfassend will sie uns bilden, und heute bietet sie uns einen Schlüssel zur Sprache der amerikanischen Streitkräfte. Leichte Verluste sind solche, die behindern eine Einheit noch nicht in der Ausführung ihres Auftrags. Mäßige Verluste an Menschen und Material bedeuten eine fühlbare Beeinträchtigung der Kampfkraft, schwere endlich sollen heißen, daß die Einheit ihre Aufgabe nicht mehr ausführen kann. Auflösung: Wenn ein Stützpunkt in Viet Nam leichte Verluste meldet, können von 3000 Mann gut und gern 100 umgekommen sein, die zählen in dieser Sprache noch nicht.
    Am vorigen Dienstag wollten ostdeutsche Grenztruppen bei Wolfsburg 200 westdeutsche Hektar als eigene einzäunen, unter Berufung auf eine Karte von 1873 mit der Grenze zwischen Braunschweig und Preußen, die die Demarkationslinie von 1945 bedeuten sollte. Die Westdeutschen gaben Abweichungen zu ihren Gunsten zu, bestanden aber auf dem Entschluß und Willen der Sowjets von damals. – Auch die Russen können sich irren: sagte der ostdeutsche Oberst. Nach der Erinnerung der Grenzanwohner irrten seine Freunde sich 1945 nicht, es seien denn Uhren aus Gold oder Flaschen voll Schnaps im Handel gewesen; dann entwarfen sie mit den britischen Partnern die Grenze in einer Kneipe, auf einem Bierfilz oder einer Zigarettenschachtel. Heute ist das zum Schießen.
    Im Oktober 1945 glaubten die Jerichower längst nicht mehr an das Einrücken von Besatzungstruppen aus Schweden, halbherzig hatten sie sich abgefunden mit dem Bleiben der Sowjets, und mein Vater wurde inzwischen gegrüßt auf der Straße, er mußte nur wollen.
    Es galt als ein Verdienst des Bürgermeisters, daß er die meisten Flüchtlinge aus der Stadt geekelt habe. Wer den Bürgern die lästige Pflicht der Gastfreundschaft vom Nacken nahm, konnte nicht ganz schlecht sein.
    Dabei half ihm K. A. Pontij, Militärkommandant. In der Woche nach seinem Einzug hatte Pontij seine Polizei in jedem Hause die Anwesenden registrieren lassen, Einheimische wie Zugezogene durcheinander, die Ist-Stärke, die Zahl der erforderlichen Lebensmittelkarten, und Cresspahl war es eher hausväterlich vorgekommen. Er sollte von Pontij noch mehr lernen in der Registrierung. Es vergingen vierzehn Tage, und Pontij kamen Zweifel an der Sicherheit seiner Bescheinigungen. Er erklärte sie für ungültig, wenn sie nicht bis zum 1. August statt seiner Unterschrift auch noch den Stempel der Kommandantur trugen. Die Leute warteten abermals vor dem Rathaus, die Treppen hinauf und den oberen Gang hinunter bis zu dem Zimmer, in dem Herr Wassergahn den Stempel schwang. (Der Haupt-, Staats- und Oberbefehl lautete auf Einbringen der Ernte.) Die Heiligung der Dokumente ging arg ab für jene Einwohner, die aus der Bäk verwiesen waren, denn Herr Wassergahn hielt eine Änderung der Angaben für nicht denkbar, hatte er sie einmal gesiegelt, und die »Umgesetzten« mußten im Verein mit Leslie Danzmann noch einmal einkommen um die Anerkennung ihrer Notunterkünfte, der Adresse für die Lebensmittelkarte. Herr Wassergahn ließ sich solche Fälle ungern erklären, blickte finster vom Bittsteller zur Sekretärin des Bürgermeisters,

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