Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
gesetzt werden, die seit der kommunistischen Machtübernahme von 1948 zu Unrecht der Polizei anheimfielen, im Zuchthaus gehalten und gefoltert wurden. Die Urteile sollen aufgehoben oder vermindert werden, falls ein Angeklagter nicht bekam, was ihm gesetzlich zustand. Die Hinterbliebenen sollen Geld kriegen, vielleicht ein neues Parteibuch für den Toten. Finanzielle Entschädigungen sind weiterhin vorgesehen für Haftschäden körperlicher Art, für Gerichtskosten, für beschlagnahmtes Eigentum. Die schuldigen Richter, Polizisten, Staatsanwälte, Ermittler, Gefängnisbeamten sowie Angestellten des Innenministeriums sollen ihre Posten verlieren und/oder, je nach dem, strafrechtlich verfolgt werden. Nein, nicht alle. Die Parteifunktionäre, so genannte Politiker, die die falschen Prozesse in Auftrag gaben, sind ausgenommen. Antonín Novotný, seit 1946 dabei im Z. K. der K. P. Č., soll nichts passieren. Das ist eine erfreuliche Nachricht auch für Sachverständige anderer Nationalität.
In jenem Parlament sitzen bis auf den letzten Abgeordneten die selben wie zu Novotnýs Tagen.
Schlechte Nachrichten für Karsch. In Palermo sind siebzehn Sizilianer und Italo-Amerikaner freigesprochen von der Anklage, sie hätten womöglich für die heimische Mafia oder die amerikanische Rauschgifte spediert oder mit Währungen jongliert. Üble Nachrichten für Karsch. Mindestens ein halbes Kapitel muß er nun umackern in seinem Buch. Das Register ist hin. Das kriegt er nicht mehr fertig bis Ende Juli. Na. Wir werden nicht so sein.
Heute hat Mrs. Cresspahl über Mrs. Carpenter gelacht.
Das weiß Mrs. Carpenter nicht. Niemandem würde sie es zutrauen, käme sie doch selber auf solchen Gedanken nicht. Könnte sie es doch beweisen.
Mrs. Carpenter (»Nennen Sie mich Ginny«) ist eine junge Person, einunddreißig Jahre, fünf Fuß vier Zoll, Blusengröße 34, Schuhe Sieben und ein Viertel, alles im Amerikanischen geschätzt. Zu sehen ein wohlgewachsenes Mädchen mit breiten Schultern, birnengroßen Brüsten, schmalen Hüften, regelmäßig bis ins Gesicht, dessen eine Hälfte der anderen zum Verwechseln gleicht, umhangen von einheitlich verbogenen Haaren, die früher einmal glatt hingen, aber so weiß wie heute. Was man auf der Oberen Westseite New Yorks den skandinavischen Typ nennt. So ist sie selten sichtbar, denn sie bewegt sich in einem fort. Wenn sie fährt, spielt sie mit dem Steuer, gelegentlich bloß mit dem kleinen Finger; in jeder Art von Gespräch setzt sie die Füße hin und her, streckt den Arm aus, krault in der Frisur; geht sie einmal zu Fuß, so entsteht für den Zusehenden ein Wirbel aus raschen Ansätzen, vom ruckenden Hals, dem Griff zur Perlenkette, dem Umwenden oder Durchsuchen der Handtasche, bis zu den Beinen, die sie mit achtlosem Stoß gegen den Beton hämmert. Auf dem Tennisplatz bekommt dies den Zusammenhang einer Aufführung und wird vergnüglich. Noch beim Zeitunglesen weitet sie die Umgebung ihrer schmalen grauen Augen überraschend, als Vorführung ihrer Geistesgegenwart. Achtet sie einmal nicht auf sich, so wenn sie Unvernunft eines Kindes betrachtet oder aus blauem Himmel ein erster Regentropfen stürzt, verrutscht die liebliche Eintönigkeit ihrer Maske zu Mißgunst, Überdruß am Leben gar; auch das ließe sich gerecht an, würde die ebene Miene nicht schief dabei. Unverzüglich kommt das Lächeln zurück. Sie hält sich für schön, begehrenswert, musterhaft; es wird ihr versichert. Ihre Unterschenkel mögen einer Frau erschlafft vorkommen; eine Europäerin wird sich eher irren über Spätfolgen von Universitätshockey in Michigan. Anselm Kristlein konnte eine halbe Stehparty lang nicht sich lösen von ihrem hohen bebenden Hals, ihrem tiefkehligen Alt, der ernsten Drolligkeit, die sie für wörtliche Flirts benutzt; sie ist Mr. Carpenter treu auf eine gehorsame, fast unbegabte Manier. Wenn sie einmal ihn abtastet mit Lächeln, mädchenhaftem Mitleid, entzückten Ausrufen, schwerlich wird ihm etwas einfallen, das auszusetzen ist an ihr.
Seit sie vor vier Jahren an den Riverside Drive kam, von Anfang an bestand sie darauf, wir sollten nicht bloß Nachbarn sein, Freunde eben. Marcia kam damals mit Marie in eine Klasse. Marie ging bald allein zu Besuch bei Carpenters. Sie wollte herausfinden, was das ist: eine Stiefmutter. Ginny klagte sich an mit unernsten Brusttönen als eine Stiefmutter aus dem Märchen, es mußte nur jemand zuhören; das Kind hörte verwundert zu; da die Fremde ihr doch insgeheim
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