Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
in den Laden fallen und Sexualphantasien austoben. Zweimal in der Woche seh ich Ginny Carpenter, du führst sie vor ein einziges Mal in zehn Monaten: in einem auffälligen Moment.
In einem wichtigen.
Jedes Mal lach ich, wenn ich sie seh. Marie muß bloß von ihr erzählen. Es ist kein unfreundliches Gelächter. Es ist meist ganz ohne Spott. Fast jedes Mal ist dabei Spaß, daß es solche gibt. Freude geradezu.
Daß Amerika auch so sein kann.
Ja. Dann schreib es auf.
Soll es denn doch ein Tagebuch werden?
Nein. Nie. Ich halt mich an den Vertrag. Nur, schreib sie öfter hin.
Dann könnte verloren gehen, was heute wichtig war an dem Lachen.
Jetzt fängst du wieder an mit Quantität und Qualität! Summier doch das eine, wenn du das andere willst!
Mit Akkumulation komm ich bei Mrs. Carpenter bloß zu Mrs. Carpenter. Ich wollte zeigen, daß du deine Abreise vorbereitest. Was du zurückläßt, es soll nicht alles unentbehrlich sein. Etwa Mrs. Carpenter. Du möchtest dir den Abschied leichter machen, wenigstens den von dieser Erscheinung New York.
Abschied? Für drei Wochen in Prag?
Solche geschäftlichen Aufenthalte können sich verzögern, Mrs. Cresspahl.
Ich fürchte mich vor dem Verlust New Yorks, ich mag’s mir bloß nicht sagen?
Sag mal, Mrs. Cresspahl.
Meine Psychologie mach ich mir selber, Genosse Schriftsteller. Du mußt sie schon nehmen, wie du sie kriegst.
So hast du noch nie gelacht über Ginny Carpenter.
Einverstanden. Das kannst du schreiben. So noch nie.
So hatte Mrs. Cresspahl noch nie über Mrs. Carpenter gelacht. So? Nie.
27. Juni, 1968 Donnerstag
Im Herbst 1946 war das Kind Cresspahl mit vielen Sachen umgezogen von Jerichow in die Kreisstadt des Winkels, nach Gneez. Sie wohnte in Jerichow, sie stand da in der Liste der Ämter für Anmeldung und Wohnraum, da bekam sie ihre Lebensmittelkarten (Gruppe IV ), da war sie verabredet mit ihrem Vater für den Fall, daß er zurückkam aus der sowjetischen Haft oder irgend einem Ort, von dem aus Rückkehr zu denken war. Aber zur Schule ging sie in Gneez, sehr oft legte die Fahrdienstleitung den Mittagszug nach Jerichow zusammen mit dem abendlichen, und wenn auch für den keine Kohle abfiel, schlief sie bis zum nächsten Schulmorgen bei Alma Witte, in dem Zimmer, aus dem Slata verloren gegangen war. Nach Jerichow kam sie zurück im Dunkeln, wie ins Dunkle.
Gneez war eine große Stadt. Für ein Kind, das geboren ist in Jerichow, und solch erweitertes Straßendorf von einer Stadt seitdem angesehen hat für die vorbestimmte, wenn nicht die mögliche Welt, ist Gneez eine Stadt, von der aus sind bloß noch größere zu denken.
Der Zug brauchte für die Stichstrecke Jerichow-Gneez, 19 Tarifkilometer, vier regelmäßige Zwischenhalte und einer auf Verlangen, nach dem Fahrplan 41 Minuten, damals etwa eine Stunde. Er war zusammengesetzt aus drei Wagen jener Dritten Klasse, in der die durchgehenden Abteile umschichtig je eine Tür haben nach links oder rechts, dazu zwei oder drei Güterwagen, auf denen die in Jerichow gesammelten Kartoffeln, Rüben, Weizensäcke zur Versorgung der Stadt Gneez angeliefert wurden. Diese Wagen fuhren abends leer zurück, in der Regel, und sobald der Zug den Sichtbereich des sowjetischen Kontrolloffiziers auf der Lok-Leitstelle verließ, turnten die Volkspolizisten von den offenen Kästen rückwärts, auf den langen Trittbrettern der Personenwagen entlang, wo ihnen wenigstens von Skatspielen warm werden konnte. Morgens aber, im Regen wie im Reif, hockten sie auf den Kanten neben den Landprodukten, die Karabiner 98k schräg aufgestützt, unversöhnliche Kämpfer gegen Heckenschützen, Diebe und Schwarzhändler. Hätte das Landratsamt Gneez seinen Bedarf auf Lastwagen aus dem Küstengebiet holen können, auch diese meist eingleisige Strecke wäre abgeschraubt worden für die Sowjetunion, wie überall die zweiten Gleise in ihrem Besatzungsgebiet. So aber wurde die Strecke befahren, fahrplanmäßig dreimal am Tag, und das Kind Cresspahl kam in seine weiterführende Schule zu Gneez, wie das Gesetz zur Reform des Unterrichts es befahl.
Der Milchholerzug von der Küste geht Gneez an in einer weitbauchigen Westkurve, so daß die dünnen scharfen Turmspitzen von Lübeck da halbrund aufgebaut sein können, wie in einem Guckkastenbild; bei der damals aufgehobenen Station Gneez-Brücke zielt die Strecke noch südsüdwestlich, da streicht die aufgehende Sonne die Fenster an; auf dem Bahnhof Gneez steht der Jerichower fast genau in
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