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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Gantlik, Anita: Keinerlei Verformungen; vorzüglich; vornehmlich in Telegrammen.
    – Und ergeht es dir besser mit deinen Augen, Gesine?
    9. August, 1968 Friday
    Gelernt ist gelernt, und zum Flugplatz La Guardia kommt man mit der Westseitenbahn bis Times Square, mit der Flushingbahn bis zur 42. an der Dritten Avenue, vom gemeinsamen Bushof der Fluglinien nach Long Island. In all dem Schutt aus verlassenen Industriehallen, der Bauweise des zu geringfügigen Privateigentums, aus richtigem Abfall, aus nach ihrem Tode weiterlebenden Friedhöfen, in der Mitte all dessen zeigt ein Flugplatz das Mögliche, mit einem gläsernen Halbrundbau in zwei Stockwerken, geräumigen Hallen für die Abfertigung wie das Warten, mit großzügigen Kaffeehäusern und Läden (worin nur die Ware der verkommenen Folklore erlegen ist), mit Marmor und anderen echten Steinen, mit sauberen Fußböden und ohne Zwangsmusik und einem unvollständig aus einem Granitblock herausgehauenen Bürgermeister Fiorello La Guardia als Kunstwerk, das Platz hat. Von der oberen Terrasse ist der Flugverkehr zu übersehen, und wiederum ist elegant, wie die unzähligen Maschinen rasch und ordentlich den Raum um die beiden Steige ausnutzen, vor die Türen rollen und bei der Abreise sich ein wenig helfen lassen von bulligen (gelben) Kleintraktoren, bis sie ihre Kraft ohne Schaden auslassen dürfen. Die Lage des Platzes am Wasser vermehrt die Bereitschaft, bloß einen eingeführten und vernünftigen Sport zu erblicken, wenn die Biester ein wenig und beherrscht zu rasen anfangen, bis sie die Nase hochnehmen, das Bugrad einziehen, geschickt sich erheben in und über den Schmutz, ihn durch klebrige Abgase vermehrend. Wenige Minuten stehen wir da, da zielt aus dem Norden ein anderes Flugzeug auf die Bahn, scheint die Flügel zu breiten, setzt sich artig hin, behutsam hin; wird gleich angefahren kommen wie ein artiges Taxi. Das ist das für uns bestimmte.
    Und wer sind die Cresspahls an diesem Morgen? Bloß Reisebegleiter, oder doch eine Eskorte, eine Wachmannschaft für Annie und ihre Kinder, der kapitulierende Rest der Familie Killainen?
    Als Annie anrief gestern abend, weigerte sie sich strikte, die Cresspahlsche Wohnung zu betreten. Wir mußten sie aufsuchen (weil du meine Freundin bist, Gesine) in einem Hotel am Lincoln Center, wo man mit der Übernachtung bezahlt für das junge Alter des Baus, seine Nähe zu den Werkstätten der Kunst, für Spannteppich, hygienisch versiegelte Toiletten und austauschbares Mobiliar, Lederimitat, darauf haftet die Hand. Annie wollte uns zeigen, daß sie Geld mitgebracht hat; eine Art Unabhängigkeit. Einer Freundin gegenüber. In ein Restaurant hätten wir sollen, zwei Erwachsene mit insgesamt vier Kindern; bis Marie sich anerbot, die Aufsicht zu führen beim Ausprobieren des Zimmerservice durch F. F. junior, Francis R. und Annina S. Fleury. Sollst bedankt sein, Marie.
    Auf dem Restaurant bestand die geborene Killainen, einer samtig ausgeschlagenen Höhle in der östlichen Stadtmitte, beleuchtet durch blutfarbene Kerzen (wie apart wirkt die eine Dame da, die mit der Sonnenbrille), verwaltet von herablassenden Kellnern, denen man ihr hochnäsiges Französisch vom Gesicht reißen könnte mit einem einzigen vollständigen Satz in dieser Sprache. Annie bestellt, Annie legt ihre Börse auf die Tischkante, sie will bezahlen; eine Sicherheit vortäuschen, das hat sie im Sinn.
    Es ist ihr also beschwerlich gefallen, mit drei Kindern in einer finnischen Kleinstadt eine unbekümmerte Dame vorzuführen, die ist ihrem amerikanischen Mann weggelaufen, dem Romanisten F. F. Fleury, über einen Streit wegen Viet Nam. Zumal dieser wie versprochen sich hat abordnen lassen nach Südostasien von einer Zeitung in Boston und auch Annie in geduldigen, beschämten Berichten seinen Irrtum beichtet und berichtet; tatsächlich hat die Zeitung ihm gekündigt wegen seiner Reportage über die Leichensäcke, die eine amerikanische Hubschrauberstaffel vorsorglich mitführt bei Einsätzen gegen einen Feind, den die Sendboten westlicher Kultur als »goon« bezeichnen; über die Füllung und den Transport solcher blutfesten Säcke. Bittende Briefe. Aber wenn Annie jemanden an ihrer Seite braucht für die Rückkehr zum Ehemann, ist das eher eine Warnung: möchte die Cresspahl anbieten. So äße sie noch einmal von dem Brot Verantwortung, so böte sie sich an als Sündenbock für die künftigen Zerwürfnisse in der Ehe Fleury; sie hütet sich. Und zuverlässig ist

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