Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Erkenntnis zu oft zu wiederholen; es war doch von ihm bekannt, und er trug es wie einen Ruhm, daß er zuerst darauf gekommen war. Pius lachte auch, aber indem er bloß Luft durch die Nase stieß; das nahm sich geringschätzig aus. Schale um Schale fiel seine Zugehörigkeit zu uns von ihm ab; er blickte uns an aus einer Ferne, fast war er erwachsen. Es gab Abende, die verbrachte er im Dänschenhagen; zwar ohne es seiner Mutter zu sagen, aber auch ohne das eigens zu verbergen. Danach veränderte sich sein Körpergeruch; zu seiner stillen, brauenhebenden Verwunderung begann seine Freundin Cresspahl, ihre Morgentoilette um Parfüm zu erweitern. Pius war des weiteren Gast in Lokalen der Eisenbahner von Gneez, auch im Lindenkrug, wo die Schaffnerinnen schon mal auf den Tischen tanzten. Für die Versammlung zum Abschluß des Lehrjahres 1950/51 schlug Gabriel Manfras vor, die Schulgruppe der F. D. J. solle den Jugendfreund Pagenkopf aus ihrer Mitte zum Dienst bei der bewaffneten Polizei
delegieren
; Pius betrachtete ihn aufmerksam so lange, bis Manfras, dem der Mumm zu solchem Dienst abging, ein Mal doch rot wurde im Gesicht. Pius wurde von den Schülern und der Lehrerschaft
verabschiedet
.
Ging nach Cottbus zur militärischen Grundausbildung, wurde aufgenommen als Flieger, befördert zum Gefreiten und Unteroffizier; einmal unterschrieb er sich als »Fahnenjunker«. Die Frau Selbich blieb noch der Zwölf A Zwei als Klassenlehrerin erhalten und durfte der Schülerin Cresspahl die Anregung erteilen, doch mal zwecks Erbauung am patriotischen Vorbilde Pagenkopf was vorzulesen aus seinen Briefen. Die hatte Lust dazu. Denn Pius erzählte darin, wie »in unserem Betrieb« die Postzensur gehandhabt wurde: der Rekrut hat seinen Privatbrief offen in der Wachstube auszuhändigen. Dann sieht er sich vor mit dem, was er zu Papier bringt. Was er noch lernen muß: die Genossen Unteroffiziere lesen einander den Inhalt eingehender Briefe mit Lust und Anmerkungen vor; da ist es schlimm, wenn statt der Mutter eine andere Frau geschrieben hat. Auch bei der Mutter kann es erbärmlich zugehen, so wenn sie von Sorgen schreibt um ihr Kind, das nunmehr entlarvt ist als ein Muttersöhnchen. – Wenn du auf die Altgedienten hörst, so ist es bei uns ärger als beim Barras: erzählte Pius schriftlich; der gab seine Nachrichten, entgegen einer Dienstanweisung, auf einen zivilen Postweg. Gerne wollte Gesine das öffentlich zum Vortrag bringen, als Beispiel für stalinistische Wachsamkeit. Aber sie ahnte, Bettinchen werde ihr den Brief aus der Hand nehmen, hatte sie ihn einmal in die Schule getragen; darin standen auch Anreden wie das russische Wort für »kleine Schwester« (Pius war anderthalb Jahre älter); sie stritt einen Briefwechsel ab.
Mit ihren eigenen Briefen nach Cottbus ging es Gesine verlegen. Einmal, sie mußte die gewohnte Anrede vermeiden, da sie ihm sonst das beim Barras verschlimmerte Gewicht seines Spitznamens um den Hals gehängt hätte; für sie war er nun einmal Pius, Robert und Rœbbing für die Mutter. Zum anderen, wie konnte sie erzählen in einem Brief, dem Durchsicht bevorstand, daß drei »Bürgerliche« aus Gneez auf einen Kursus zwecks sozialistischer Ausrichtung geschickt wurden, deshalb mißtrauten sie einander. Als sie aber ihr Zimmer in Schwerin betreten hatte, verhängte einer das Schlüsselloch, hielt der zweite den Rücken gegen das Fenster, berieten beide den Dritten bei der Suche nach den Mikrofonen; einträchtig, verschworen kamen sie nach den vier Wochen zurück nach Gneez, bestätigt als Steueramtmann, Molkerei-Direktor, Personalchef bei Panzenhagen. Ein ganz neues, zwar in den Grundzügen bekanntes, Netz aus Beziehungen zog sich über die Stadt; jetzt ist es gelegentlich unnütz, daß einer den anderen kennt seit so Stücker zwanzig Jahren: wie konnte sie das schreiben, ohne ihm seine Bewertung im Politunterricht zu vermasseln auf ewig und drei Tage? Deswegen war sie erleichtert, wenn er noch einmal wissen wollte, was aus einem Fischhändler Abel in England wird: Able, worauf er sein Ladenschild ändert in Ebel, worauf die Leute sagen: Ible, worauf und so fort; auch froh. Denn sie verstand, daß er nun wieder unterwiesen wurde im Englischen und in einem Notfall umsteigen konnte auf zivile Luftfahrt. Daß die ganze Familie Pingel nach Eckarts »Einjährigem«, über die Schule verärgert offenbar, in Richtung Westen abgehauen war, das war wiederum unpassend. Am liebsten war ihr, er kam zu Besuch, ging mit ihr
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