Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Schuko-Zubehör nur gegen Vorlage des Facharbeiterbriefes. Kühlschränke gibt es frei.
Ein privates Geschäft bot Radieschen, Wruken, Äpfel. Kartoffeln. Tomaten waren ausgegangen. Vor dem Schaufenster von Schlachter Klein stand eine Schlange, als sei sie eingerichtet auf ein Ausharren bis zum Ladenschluß.
Es gibt keine Ansichtenpostkarten von Jerichow.
Wie hat Anita sich erschrocken, als sie unverhofft gegrüßt wurde von einer alten Frau in Kopftuch und Nylonmantel! Von nun an sagte sie zu jeder, die fünf Jahre älter schien als sie: Tach.
Es gibt in der Stadtstraße von Jerichow kein Haus mit der Inschrift: Tue recht und scheue Niemand! das auf beiden Türflügeln einen geschnitzten, grün gestrichenen Igel trüge! es sei denn, es hätte gestanden neben der Sammelstelle für Altglas. Da ist eines herausgeschlagen aus der Reihe bis in den Keller hinein, ein gezogener Zahn.
Einträchtig nebeneinander: ein amtlicher, ein privater Kasten mit Bekanntmachungen hinter Glas:
Auf dich kommt es an, deinen Rat, deine Tat. Das Militärpolitische Kabinett ist geöffnet von bis. Mädel und Jungen; lebt und handelt wie Revolutionäre von heute! Die Übungen des Fanfarenzuges finden ab sofort.
Der Verein der Schäferhundzüchter lädt ein. Der Verein der Kaninchen-, der Taubenzüchter. Es wird erstmals ein Pokal ausgeflogen; wer wird der stolze Gewinner sein? das werden wir im August erfahren! Das Schützenfest ist geplant für.
Vor dem evangelischen Pastorat ein Schaukasten, darin die Abbildung eines nackten Mannes, am 4. November 1959 von der Sowjetunion als Geschenk und Denkmal übergeben für den Park der Vereinten Nationen zu New York. Ein Werk von Jevgenij Wutschetitsch; Pendant in der Tretjakov-Galerie von Moskau. Der männliche Akt hat ein Schwert so weit umgebogen, daß am anderen Ende eine Pflugschar zu erkennen ist; Hammer in der Rechten ausgeholt. Inschrift: WE SHALL BEAT OUR SWORDS INTO PLOWSHARES (Jesaja 2;4). Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen!
Das Dach der Petrikirche zur Hälfte abgetragen, zur anderen mit neuen Ziegeln belegt in beißendem Rot, das wird sich geben im Wind vom Meer her. Die Einrüstung des Baus, die Leitern, sie scheinen lange unbegangen, unbestiegen; die Schutthaufen zu ihren Füßen eingeschnurrt. Wie es geschieht alle paar Jahrhunderte.
Im Friedhofsamt gibt man auch ortsfremdem Besuch die Hand. Heißt Bereich Landschaftsgestaltung, Abteilung Bestattungswesen. Obwohl die Gräber zu Cresspahls Haus schwer zu verfehlen wären. Die Buchstaben auf deines Vaters Stein, sie haben ihn verschmiert mit Ausscheidungen von Rost. Die Bepflanzung, als müßte der Etat einer Gemeinde dafür herhalten; Maiglöckchen. Deiner Mutter Kreuz, das Gußeisen, es blättert in Flocken ab; mit zwei Fingern kann man hindurchfassen, so verdorben ist es nun. Jakobs Tafel steht da wie ein Preisschild; der Rosenstock 1964 ist gesund angewachsen. Dein Platz ist noch unbelegt, Gesine.
Das Haus am Ziegeleiweg, das deinige, es ist aufgeteilt. Die kleinere Hälfte an den Veteranenklub der Volkssolidarität; leider geschlossen. Die andere Hälfte könnte später einmal ein Kindergarten werden. Davon ist vorerst nur eine Zukunft zu sehen: Das Betreten des Kindergartens ist fremden Kindern verboten; Eltern haften für ihre Kinder. Viel später. Es ist so zerfallen, das braucht Handwerker für Wochen. Das Dach mit Eternit gedeckt. Das stört keinen Storch.
In der Bäk sprach Anita mit alten Leuten über den Zaun, lobte die Hyazinthen. Ja, die Wurzeln dazu sint ausm Wessn! In manchen Vorgärten weiß angestrichene Autoreifen, mit Erde gefüllt, als Blumenschalen; neuer mecklenburgischer Volksbrauch? Pferdegespanne vor Kastenwagen; mürrische Jungens auf verschmutzten Traktoren.
In der Bäk eine Gruppe Kinder, Achtjährige, in Zivilhemden, riefen im Chor: Wir verlangen, daß von der Volkspolizei in diesem Haus eine Durchsuchung gemacht werden kann! Die Bewohnerin jenes Hauses stand einverstanden lächelnd dabei. Sint eben Kinder, nich? Die meisten Kinder trugen echte Blue Jeans, dazu Bowie-Messer.
Vor Emma Senkpiels Laden eine R. F. T.-Säule aufgestellt; einstweilen stumm. In Emmas Laden bekam Anita, obwohl gegen die Vorschrift, ein Glas Milch eingeschenkt. Gesine, kein Mensch würde dich kennen in Jerichow.
Die Telefonzelle am Markt erneuert. Man merkt es daran, daß bei der Reparatur das umliegende Pflaster abhanden kam. Die Tür öffnet nun zur
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