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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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größer als Kindköpfe, Brassköppe. Sie dachte an die Vorzeiten, da waren die Tagelöhner mit dem Eimer sammeln gegangen, die Bauern noch ärger hinterher. Die Gutsbesitzer hatten beachtet, daß ein steinarmer Acker die Maschinen bewahrt vor Bruch. Offenbar war für die Bereinigung der Endmoräne kein Platz in den Arbeitseinheiten der ElPeGees. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften heißt das.
    Wenn eine Anita die Bahnhofsgaststätte Gneez betreten möchte, mag da gut und gern dran stehen, sie sei geschlossen. Das sieht eine Serviererin, dieser Dame ist der Wartesaal unzumutbar, da lärmt ein Bautrupp bei Bier und Schnaps; da schließt sie auf vor der Zeit. Die Tische frisch gedeckt, proper. Blumentapete, Sesselstühle mit Kunststoff bezogen, Bambusgestell mit Blattpflanzen, daneben die gängige Presse in ungeschickten Haltern; zierliche Tulpenleuchter (elektr.) an den Wänden. Da rümpft eine Anita die Nase, als röche es sauer. Die Kellnerin sieht’s, gleich tut sie besorgt wegen der bloß zehn Gramm Butter je Brötchen, gegen Bestellung eines zweiten darf sie zehn Gramm zulegen. Heute: sagt diese junge Bürgerin von Gneez: war ja man früher ein Feiertag; nu habn sie uns den wechgenomm.
    Wir verbitten uns Provokationen.
    Der Betrieb nach Jerichow ist eingestellt, wegen Bauarbeiten: steht im Fahrkartenschalter; Öffnung nur zwanzig Minuten v. d. Z. eines abgehenden Zuges. Dahinter ein Beamter von 60 Jahren, korrekte Uniform, weißes Hemd mit Schlips; telefoniert. Fahrgast an falschem Fenster; die wird er ein bißchen erziehen. Nach zehn Minuten honoriert er ihr schweigsames Warten und teilt ihr die Zeiten für den Schienenersatzverkehr mit. Anita nahm ein Taxi nach Jerichow. Sie hält es für eine Ausnahme, daß jemand heutzutage bloß aus dem Hauptbahnhof Gneez zu treten braucht, da gewinnt er nach vierzig Minuten ein Taxi.
    Der Fahrer eine Enttäuschung, ein Mecklenburger, ein quaßliger. Wohl die Verwandten besuchen, die Dame? Aber Anita sah ein Pferd, das wartete nachsichtig auf seinen Bauern, der stand an der Ecke und klönte; so sind die Menschen eben. Wo die Straße über die Schienen geht tatsächlich Leute beim Picken; vielleicht bleibt die Strecke nach Jerichow erhalten. Die Neubauten von Gneez: Fabrikhallen in Sichtbeton, Baracken als vorläufige Lager für Brennstoffe, Düngemittel, Landmaschinen. Die Industrialisierung des Nordens. Kommunaler Zweckverband (Sarglager – Tischlerei).
    Windmühlen ohne Flügel, waldige Partien, der Anstieg von zehn Metern, der erste Blick auf den grauen Strich unterm Himmel, die See. Es war einmal Anitas Schulweg gewesen; sie spricht von »deinem« Mecklenburg. Sie mußte da bleiben für fünf Jahre.
    Wegen der Steine, sie hat gefragt. Daran gehen doch Erntegeräte kaputt. – Och: sagte der Mann: denn stelln wir ebn den Mähdrescher aufn halben Meter!
    Er wollte gern die Anschrift wissen in Jerichow, damit er was zu melden hatte. Da reicht Anita, in ihrem Sprechen ist schon vorher ein ausländischer Akzent aufgefallen, eine Schachtel mit vorstehender Papyrossy, hohlem Mundstück, wie nur die Russen sie täglich gebrauchen. Nun war Schweigen. – Zum Bahnhof: sagte Anita.
    Dortselbst Begrüßung durch ein verwittertes Sperrholzschild an dem Gefallenen-Denkmal: Lernt, die ihr gewarnt seid. Den Opfern der imperialistischen Kriege.
    Die Stadt-, die Ad. Hitler-, die Stalin-, die Straße des Friedens von Jerichow.
    Unterschiedlicher Bauzustand. Die zumeist einstöckigen Häuser manchmal neu verputzt, mit verbreiterten Fenstern, auch neuen Türen versehen. Trägt eines aber den Vermerk »K. W. V.«, das Zeichen des Staatseigentums, können da nackte Steine aussehen wie seit Jahrzehnten vom Meerwind bloß gelegt und abgenagt, die äußeren Fensterrahmen grau gescheuert vom Regen. Gefährliche Bäuche im Fachwerk. Inwärtig jedoch feinster Farbanstrich, Blumentöpfe, makellose und dicht gereihte Dederon-Gardinen.
    Selig, wer sich vor der Welt / Ohne Haß verschließt …
    Auf fast jedem Dach eine Antenne für den Empfang von Fernseh-Sendungen, der westlichen Himmelsrichtung zugewendet.
    Was Anita ein fremdes Gefühl beibrachte: die Spärlichkeit der Sichtwerbung. Etwa acht Fahnen entlang der Stadtstraße. Leere Steckhalter an fast jeder Haustür.
    Karstadts Landkaufhaus nun ein »Magnet«. (Weil’s anzieht, Gesine.) Eine Tischkreissäge wird abgegeben nur an gesellschaftliche Bedarfsträger mit Nachweis. Elektromaterial für Reparaturen vorbehalten.

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