Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Der Name des Herrn Mendelssohn-Bartholdy hatte nicht erneuert werden können auf dem üblichen Emailschild, aber mit Schnitzschrift in zwei eichenen. Das war das »neue gute« Viertel der Stadt gewesen, vergeben an Angestellte der Verwaltung, der Parteien, zugezogene Kopfarbeiter, nun dick belegt mit Flüchtlingen, Kinderheimen, sowjetischer Privat-Einquartierung. Erst wenn man, Ecke um Ecke nach links, durch dies Kästchenmuster gewandert war, stand man auf dem Schwanz der Eisenbahnstraße, einem geringfügigen Platz, der einmal die verdickte Stadtmauer gefaßt hatte, das Lübische Tor, die bei Lisch nicht erwähnten Wachhäuser und eine scherzhafte Nachbildung jenes Tiers, dem Gneez seine Spitznamen verdankt, in Bronze. Jetzt aber gab der Platz bloß die Brücke her über den Stadtgraben, ein tiefliegendes, fast stehendes Gewässer, so breit wie ein Mann lang ist. Hier fing das alte Gneez an.
Auf Karten ähnelt Alt Gneez dem Versuch eines frühen Mathematikers, aus vielkantigen Brettchen ein Vieleck zu bilden, das einem Kreise nahe kommt. Das rohe Rund, dünnadrig gegliedert, war mittendurch getrennt von der Stalinstraße, auf der zwei Pferdewagen ohne Ausweichen aneinander vorbei konnten, ein Weg für Einkäufe, Bummelei, Durchfahrten. Fast alles östlich dieser Magistrale, bis hin zum Rosengarten, galt als das »alte gute« Viertel, Sammeladresse für Leute, die schon seit den Franzosenzeiten dort Familie nachzuweisen hatten, im Zweifel für Flüchtlinge. Auf der westlichen Seite mochten die Nebenstraßen am Anfang einzelstehende Putzbauten zeigen, die verrieten sich durch mürbes Fachwerk an den Seiten, die wurden überführt von den hinter ihnen abfallenden Katen, Ackerbürgereien, Handwerkshöfen. Das waren Häuser, gebaut nicht bloß für eine Familie, sondern für solche, die wollten noch Mietgeld mitnehmen. Wer durch den Dänschenhagen ging, sah es an den Türen. Fabrikware, kaum Schnitzereien oder Sprüche in den Balken. Arbeiter eben. Die waren ja froh, wenn sie wo unterkriechen durften. War eben Westseite, nichs zu machen bei, nich? Allerdings, da gab es so krumme Mauern, in denen fiel eine Klinke kaum auf. Da war so manches Haus der Plünderei entgangen. Auch bei der Belegung mit Flüchtlingen waren die günstiger weggekommen. Aber die Grenze zum anständigen Viertel, die Stalinstraße, hatten auch die Sowjets nicht beseitigen können.
Die Stalinstraße, ehedem benannt nach ihrer Richtung auf Schwerin, kroch vierhundert Meter südlich auf den Marktplatz, verschwand da auf dem Katzenkopfpflaster und fing an der Ecke gegenüber, weniger großspurig, wieder an als Schweriner Straße. Da war der Bullenwinkel, die Bleicherstraße, die Reiferbahn. Da war das Kind manchmal zu Besuch in einem Haus mit stattlicher Einfahrt, einer gedrungenen Wohnetage und Leutekammern darüber. Da sah sie manchmal Böttcher zu beim Tischlern. Sie sah das gern. Da war schräg gegenüber die Heiligblutkapelle. Einmal war die Schweriner Straße ein Schulweg gewesen.
Aber der Markt war einem Kind aus Jerichow unvergeßlich. Er mochte eine Fläche haben ähnlich dem heimischen. Aber für Jerichow war es bei dem einen Markt geblieben; in diesem erkannte man das Vorbild für Gneezens neuzeitlichen Festplatz am Bahnhof. Hier zeigten die Häuser oft vier Reihen Fenster übereinander, jedes nach eigenem Maß, in einzeln hochgezirkelten Fassaden, hinter deren Spitze nicht blanke Luft war, sondern ein unbezweifelbares Fenster zu einem Bodenraum, den es gab. So stolz rückten sie von einander ab, sie ließen Tüschen frei, nicht aus Notwendigkeit, bloß aus Selbstachtung. Daran sollte es nicht fehlen. Die Dächer waren dem Markt abgekehrt, wie Scheitel über Gesichtern, die sollen alle verschieden sein. In den Giebeln hingen Flaschenzüge, war eine einsame Luke wenigstens mit Stabspeichen zu einem halben Rad befördert, waren Hauswappen gemalt, von verschlungenen Initialen bis zur brennend kreisenden Sonne. (Auf der Südseite wendet ein Haus dem Markt die Breitseite seines Daches zu, mit einer ausgemauerten Mansarde, das fehlt auf jeder Ansichtskarte vor 1932.) Hier war die Hof- und Raths-Apotheke. Da sind Häuser, die melden Geschichte nicht nur in den abgewetzten Ziegeln: Auf dieser Diele zahlten die Bürger der Stadt ihre Kontribution zum Kriege des Alten Fritzen 1756-1763. Zum Andenken an die Franzosenzeit: Brandschatzung durch die Division Vegesack. Hier nächtigte Friedrich IV ., König von Dänemark, vom 19. auf den 20. Dezember
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