Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
erzog ihren kleinen Jungen zum Deutschenhaß. Er schmiß Großmutter Rehse den Aufwascheimer um, behandelte sie durchaus wie einen Dienstbolzen. Oma Rehse wäre gern zärtlich zu dem Siebenjährigen gewesen, nun verstand sie ihn nicht. Das war die Familie Shachtev, die kaufte keinen Likör, sondern Schallplatten. Es sollte Musik von Beethoven sein, und billiger als bei Krijgerstams Rasno-Export. Die rückten den Likör unter Streit heraus, beschimpften das deutsche Kind als Faschistenbrut, drohten wohl auch einmal mit Anzeige, alles mit betont guten Formen, die jedwede Vertraulichkeit ausschlossen. Frau Shachtev war im Frieden Ärztin gewesen. Ihr Herzenskind Kolja war in der Heimat von einem Kindermädchen versorgt worden.
Das jerichower Kind lernte von Alma Witte, von Wilhelm Böttcher kleine Fetzen der Ortsgeschichte, mit denen Zugezogene so gern sich eine Kenntnis der fremden Gegend einbilden:
Der Dom brannte im heißen Juni 1659 ab, ganz allein in der Stadt, wie angesteckt. (Nach Berechnungen des Städtischen Wetteramtes von New York war der diesjährige Juni für die Jahreszeit zu feucht, zu kühl.) Seit 1660 wartete die Kirche auf eine Spende der Stadt für eine neue Spitze des Turms. Die Stadt hatte den evangelischen Glauben unter Kriegsgewalt annehmen müssen, bis zum Jahr 1880 bekam der Dom bloß seine Kreuzflügel wieder, die Stadt wandte nichts auf für den Turm. Die Stadt konnte warten. Solange die Kirche ärgerlich war, wollten die Bürger verwinden, daß die Schiffahrt nun nicht mehr das stumpfe Notdach von Gneez als Seezeichen benutzte, sondern die Petrikirche von Jerichow.
Die lübische Vorstadt hieß Brückenstadt, Brückenviertel, obwohl auf der lübecker Seite gelegen. Einmal mußte man den großen Nachbarn im Westen nicht auch noch namentlich in der Stadt haben. Zum anderen war da einmal eine Brücke gewesen, über den Wasserlauf, mit dem Johann Albrecht I . von Mecklenburg die Wismarsche Bucht an die Elde und Kleinasien hatte anschließen wollen, lange vor Wallenstein. Wallenstein hatte dem Plan seinen Namen verliehen, übrig war da ein fauliger Graben zwischen den Arado-Werken I und II .
Der Stadtsee war einmal benannt gewesen nach einem großen Bauerndorf im Süden, das im Krieg von 1618-1648 ausstarb und in den nächsten Jahren unter den Pflug kam und vermoorte. Die Woternitz war das gewesen. Je mehr Gneez aufkam, desto dringender wollte es einen Stadtsee haben, druckte ihn auf Prospekte für den Fremdenverkehr, schraubte schon am Bahnhof emaillene Schilder an mit deutender Hand. Zwar, das Reichsamt für Landesaufnahme hatte sich nicht erweichen lassen. Gesine lernte es, solchen Geschichten zuzuhören, ohne die Stadtstraße von Jerichow zu erwähnen. Richtig war es, beim gneezer »Stadtsee« etwas die Lippen vorzuschieben, Willi Böttcher seitwärts anzublicken. Dann gehörte sie beinahe dazu.
Sie mußte sich einrichten in Gneez. Als sie am 1. September 1946 in die Brückenschule umzog, fiel dem Klassenlehrer, Herrn Dr. Kramritz, auf dem alten Zeugnis die Unterschrift Abs auf. Kramritz hatte lediglich aus Neugier gefragt, sie aber war vor Angst auf die Wahrheit verfallen. Frau Abs war weder ihre Stiefmutter noch ihre Tante noch irgend jemand, der ihr Zeugnis unterzeichnen durfte. Das Kind Cresspahl hatte keinen gesetzlichen Vertreter.
Ende Oktober hörte sie von der Kontrollratsdirektive 63. Es sollte nun »Interzonenpässe« geben für Reisen in die westlichen Zonen. Die Grenze war wieder offen. Was immer Jakob festhielt am Gaswerk von Jerichow und in Cresspahls Haus, sie wußte es nicht. Eines Tages konnte er nach Westen gehen. Erfinde dir drüben eine Beerdigung, ein Geschäft mit Nägeln, die Volkspolizei gibt dir das Papier für die Reise. Frau Abs würde ohne ihn nicht bleiben. Cresspahls Kind mußte warten.
In Gneez war es zu sehen. Von einem Tag auf den anderen war Brigitte Wegerecht nicht mehr zur Schule gekommen, entschuldigt weder bei Dr. Kramritz noch bei der Freundin. Dann schickte sie Wort aus Uelzen (britische Zone).
Unverhofft wurden in Gneez Zimmer leer über Nacht, ganze Wohnungen, wunderbar schüttete Leslie Danzmann Einweisungen aus über die Flüchtlinge. Es gab schon wieder Familien, die wohnten ganz für sich hinter der eigenen Tür. Als Dr. Grimm das Landratsamt von Gneez wiederum als Erster Leiter übernehmen sollte, auf energischen Wunsch der Krosinskaja, reiste seine Familie zu einer Taufe in Hannover, nicht verwunderlich bei einer so evangelischen Familie.
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