Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
1712. Am Markt stand die Post, ehemals Palais der Grafen von Harkensee, mit höflich zurückgenommenen dorischen Säulen. Auf der Westseite ist einem weitläufigen Haus die Stirn so hoch gezogen, das Dach muß sich eine Weile in der Waagerechten halten, ehe es nach hinten abbiegt. In der Front sitzt eine Doppeltür nach dem Goldenen Schnitt, der nähert sich von zwei Seiten eine Treppe, zur ersten Etage hinauf. Dennoch steht es in einer Reihe mit den anderen, es verlangt nicht größeren Abstand. Das war einmal das Rathaus. Die Treppe hatte der Obrigkeit sollen Achtung bezeigen, dem gewählten Ersten unter gleichen Bürgern. Darunter der Ratskeller sollte seinen Blick behalten auf den Markt. Es war denen vom 20. Jahrhundert zu bescheiden gewesen. Bei all ihrer Großmannsucht waren sie doch nicht losgekommen von den dickschopfigen Linden, die den Marktplatz umstanden, eng an den Häusern entlang; sie waren in einem fort gewachsen. Die Kandelaber würden nicht wachsen. Der Bahnhofplatz mochte der Neuzeit als Salon genügen; der Marktplatz war Gneezens Gute Stube nach wie vor.
Da endete die Stadt nicht, südlich des Marktes war noch fast ein Drittel aufgestellt, das herzogliche genannt, etwas weitläufiger von Hofbaumeistern entworfen in der Zange, die aus Alleen auf den alten Festungsmauern ausgelegt war: Polizeigefängnis, Landratsamt, Land- und Amtsgericht, Schloßtheater, Domhof, das zum Sowjetlazarett umgewandelte Gymnasium und die wohl einhundert Meter lange Promenade zwischen Schwimmbadeanstalt und der Siedlung Klein Berlin am Stadtsee. An der Ecke zum Domhof stand Alma Wittes Hotel, da blieb das Kind aus Jerichow manchmal über Nacht.
Stadt Gneez. 1235 zum ersten Mal erwähnt im ratzeburger Zehntenregister. 1944 etwa 25 000 Einwohner, 1946 nur wenig unter 38 000. Kreisstadt. Industrie: Sägewerk Panzenhagen und Konservenfabrik Möller & Co., Zweigwerk von Arado. Ansonsten Handwerk, Handel bis auf eine Firma wenig bedeutend. Umgebung: Wälder an allen außer der südlichen Seite, im Osten ein Bergzug von 98 Meter Höhe, bewaldet unter der gütigen Aufsicht der Herzogin Anna Sophie von Mecklenburg. Dortselbst 1676 die letzte Hexenverbrennung; daher der zweite Name Smœkbarg. Neben dem Stadtsee der Warnowsee, Rexin. Bahnverbindungen nach Bad Kleinen, Herrnburg, Jerichow.
Seit das Kind Cresspahl in die Brückenschule versetzt war, hätte sie gleich rechts vom Bahnhofplatz abgehen können, die Speicherstraße entlang und über die Brücke zur Brückenschule in der lübischen Vorstadt. Wenn sie mehr von der Stadt Gneez lernen wollte, als ihr aufgegeben war, lag es vielleicht an der Zeit, die sie bis zur Abfahrt eines Zuges hinbringen mußte?
Sie war längst nicht mehr so fremd, daß sie erst auf die Häuser achtete, dann auf die Leute. Eine Fahrschülerin war sie geblieben; dennoch zog sie um nach Gneez mit vielen Stücken.
Sie ging hinein in die Häuser. Sie beredete mit den Leuten die Geschäfte, für die sie ganz andere Zeit aufwenden konnte als Jakob. Sie erfragte bei Böttcher den Preis für ein Butterstampffaß, sie verglich die Auskunft mit den Wünschen von Arri Kern, Böttcher bekam den Zuschlag.
Im »neuen guten« Viertel, der Bahnhofsvorstadt, hatte sie eine russische Offiziersfrau zu besuchen, Aufseherin des Landratsamtes. Die deutschen Hausbesitzer versuchten, wenigstens diese Einquartierung hinauszuekeln mit unsachgemäßer Bedienung. So gaben sie der Krosinskaja keine Bettwäsche und erzählten in der Nachbarschaft, solche seien es anders ja auch kaum gewohnt. Die Krosinskaja hatte keinen Mann im Kasernenviertel Barbarastraße, ihrer lag bei Stettin in der Erde, so hätte sie Bezüge und Laken geradezu kaufen müssen. Sie kaufte Likör. Einmal zog sie sich vor dem Kind aus Jerichow aus bis auf den seidenen Unterrock, stemmte ein unsichtbares Gewicht auf beiden Armen und fragte: ob sie noch schön sei. Das Kind schätzte sie auf vierzig Jahre, nannte sie mit dem gewünschten Wort, gar nicht lügenhaft. Nur, bei der Krosinskaja war alles ein wenig zu groß, zu schwer, von den Beinen bis zum Busen. Die Krosinskaja zahlte genau. Über ihre deutschen Gastgeber lachte sie. Die gaben ihr keine Möbel, nun was. Also wohnte sie im Bett. Auf das blanke Inlett legte sie die Armeezeitung, auf der täglichen Krasnaja Armija breitete sie ihr Abendbrot aus, Wurst und Brot und Zwiebeln einzeln, aß mit dem Messer. Sonst war sie ganz tutig.
Eine andere sowjetische Familie, beschäftigt im Bahnhof der Stadt,
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