Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Er besprach die von Gerd Schumann hinterlassene Arbeit einen ausführlichen Abend lang, im Dom Offizerov bei Wein; am nächsten Morgen war er bei Ratzeburg durch den See geschwommen. Der wußte, was er tat. Brigittes Mutter, die geborene von Oertzen, mochte dem Testament ihres Mannes folgen, oder dem Willen ihres Bruders. Hätte das Cresspahlsche Kind es Jakobs Mutter verdenken dürfen?
Jakob ging noch oft genug zu Besuch bei Johnny Schlegel. Er hatte da eine Liebschaft. Jene Anne-Dörte war hübscher, klüger auch als so jüngere Kinder, sie mochte eine Gräfin sein und all das, aber das wußte Gesine Cresspahl, dafür war sie ihre dreizehn Jahre alt: Solche Liebschaften sind fürs Leben. Es gab keinen Zweifel. Wenn Anne-Dörte nach Schleswig-Holstein gerufen wurde, ging Jakob ihr auch dahin nach. Dann war das Cresspahlsche Kind das gewohnheitsmäßige Erziehungsrecht los, das die Familie Abs ihr geliehen hatte.
Kinder, die allein stehen, kommen in ein Heim. In Jerichow gab es keins. Das Sammelkinderheim stand in Gneez.
28. Juni, 1968 Freitag
Gestern, 27. června, stand in der Wochenzeitung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, Literární Listy, genehmigt beim Kulturministerium, Erscheinungsort Prag, Preis eine Krone zwanzig, ein Brief an alle Bürger des Landes,
dělníkům,
zemědělcům,
úředníkům,
vědcům,
umělcům,
a všem,
unterschrieben von fast siebzig Arbeitern, Bauern, Technikern, Ärzten, Wissenschaftlern, Philosophen, Sportlern, Künstlern,
Dva Tisíce Slov, Zweitausend Worte:
»Am Anfang bedrohte der Krieg das Leben unseres Volkes. Ihm folgten abermals schlimme Zeiten mit Vorfällen, die die moralische Integrität und seinen Charakter gefährdeten. Die Mehrheit des Volkes nahm das sozialistische Programm mit Hoffnung auf. Jedoch geriet die Leitung in die Hände falscher Leute. Der Schaden wäre zu beheben gewesen, wenn diese Leute ihren Mangel an staatsmännischen, sachlichen, philosophischen Kenntnissen wettgemacht hätten mit gesundem Verstand und Takt, also die Fähigkeit erworben hätten, die Meinung Anderer anzuhören und, schließlich, sich der Auslese der Besseren zu unterwerfen.
Die Kommunistische Partei genoß nach dem Krieg das Vertrauen des Volkes in weitem Umkreis. Dies Vertrauen hat sie nach und nach eingetauscht gegen Posten, bis sie endlich alle besetzt hielt und sonst gar nichts mehr besaß. Wir müssen das so sagen. Das wissen die Kommunisten wie die Parteilosen, die von den Ergebnissen gleicher Maßen enttäuscht sind. Die fehlerhafte Linie der Partei in der Führung hat sie selbst aus einer politischen Partei, einer Gruppe mit einer großen Idee, verwandelt in eine Machtorganisation. Die zog herrschsüchtige Egoisten an, Feiglinge ohne Skrupel, Leute, die etwas zu verbergen haben. Solche Leute hatten Einfluß auf das Selbstverständnis und das Verhalten der Partei, die im Inneren durchaus so organisiert war, daß anständige Leute nicht ohne schändliche Taten in die Führung kamen, um die Partei zu verwandeln in eine, die jederzeit in die Welt von heute paßt. Viele Kommunisten haben versucht, gegen diesen Verfall zu kämpfen; fast nichts haben sie verhindert von dem, was später Wirklichkeit wurde.
Die Zustände in der Kommunistischen Partei waren Vorbild und Ursache für die entsprechenden Zustände im Staat. Die Verflechtung mit dem Staat hat die Partei des Vorteils beraubt, den ein Abstand von der Exekutive bedeutet hätte. Was in Staat und Wirtschaft geschah, durfte nicht kritisiert werden. Das Parlament verlernte das Beraten, die Regierung das Regieren und die Direktoren das Leiten. Die Wahlen bedeuteten nichts, die Gesetze galten kaum. Wir konnten unseren Abgeordneten in keinem Ausschuß mehr vertrauen, selbst im anderen Fall durften wir von ihnen nichts verlangen, denn sie konnten nichts tun. Noch schlimmer war, daß wir selbst einander fast gar nicht mehr vertrauen konnten. Die persönliche Ehre und die der Gemeinschaft ging kaputt. Anstand half gar nichts, noch verschlug die Bewertung eines Menschen nach seinen Fähigkeiten. Darum verloren die meisten Leute das Interesse für die öffentlichen Dinge, sie kümmerten sich nur noch um sich selbst und um Geld, und das in Verhältnissen, da man sich nicht einmal mehr aufs Geld verlassen konnte. Die Beziehungen zwischen den Menschen verkamen, die Freude an der Arbeit war dahin, kurzum: es kamen die Zeiten, die die moralische Integrität und den Charakter unseres Volkes gefährdeten.
Für den
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