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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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der Richtung Ost-West, da könnte er mit ein wenig Rangierens nach Hamburg oder Stettin auf den Weg gebracht werden; nun beide Städte der klassischen Linie abgesperrt waren durch Grenzen, kam er über den Bahnsteig 4 nicht hinaus. Gneez hatte vier Bahnsteige.
    Da hatten sie einen Vorplatz, der nahm mehr Fläche ein als der ganze Markt von Jerichow, wie ein Markt war er umbaut. Da waren rechts die übermannshohen Stahltore der Güterverladung, daneben in drei rotziegligen Stockwerken das Rathaus mit der Fahne der Roten Armee, gerade vor den Augen das Fürstenhaus, umgebaut zu Knoops Lager und Spedition, gekreuzte Hämmer auf den Milchglasscheiben, links, entlang der nach Bad Kleinen fortlaufenden Strecke, Fahrradschuppen und die Bucht im Bürgersteig, die ehedem die Landomnibusse anfuhren. In der Mitte dieser unglaublichen Weite war ein wahrhaftiger Park angelegt, ein zwar nun schwarzgetretenes Rasenkarree, mit kahlen Bäumen hier und da. Quer durch den Platz aber lief der Weg hinzu auf das Prachtstück des ersten Eindrucks, ein vierstöckiges Haus in grauem Putz, mit durchgehenden Säulen und Riefen bis unters vornehm gerundete Walmdach ein Palast, das Hotel Erbgroßherzog, um 1912 errichtet nach den Plänen eines Architekten, der an eine großstädtische Zukunft von Gneez geglaubt hatte. Nicht nur zog der Bau mit Restaurant und drei Stockwerken Zimmern in den Rosengarten hinein, anderthalbfach so dick war er in die Eingangsstraße gesetzt, im Untergeschoß aufgeweitet zu einem Café unter zierlichen Stuckgirlanden, einem großmächtigen Tor zu den Gesellschaftssälen und einem mehr geduckten zu den Renaissance-Lichtspielen. Erst dann, nach einundfünfzig Metern von der Eisenbahnstraße, überließ der Koloß die Front kleinstöckigen Winzlingen, weißbemalten Bürgerhäusern mit Ladengeschäften und Lokalen im Fuß. Das war die Eisenbahnstraße, die ein paar Jahre lang nach einem Österreicher geheißen hatte und nun wieder benannt war nach dem Ort, wohin sie führte, woher sie kam. Der Name Erbherzog saß dem Hotel noch auf dem Dach, in stolzer Antiqua an Drahtgittern befestigt, und wie das Haus früher Reisende mit kleiner Handlung abgeschreckt hatte, so war es heutzutage besser gestellten Personen vorbehalten durch ein rot und gelbes Blechschild auf dem halbrund vorgesetzten Empfang, das für die meisten Deutschen nicht leserlich war und nach Vermutungen übersetzt wurde als Haus der Offiziere, aber für Offiziere im Besitz einer kyrillischen Schreibbildung. Das war der Bahnhofplatz von Gneez, das Zeichen, das eine reiche Landstadt einmal sich vorgenommen hatte als dauerndes Monument, nicht in einer protzigen Geste, sondern in bescheidener Ankündigung des Vorhandenen. Mehr wollten die Bürger vom Anfang des Jahrhunderts nicht hermachen von sich; wie solide es um sie stand, sollte zu sehen sein. Es war der Aufmarschplatz der politischen Demonstrationen gewesen seit dem Kriege von 1914; hier hatte die Rote Armee ihre zivile Herrschaft eingerichtet.
    Rundum war der Platz bewacht von Laternen, die brauchten gar nicht zu leuchten, mochten ihre Gläser eingeworfen oder zerschossen sein, sie standen doch so hoch in steif ausladenden Paaren, Kandelaber blieben sie, schwarz lackierte. In fast jedem Zwischenraum war ein Pfahl mit roter Fahne aufgestellt oder ein Tuch gespannt, auf dem redete die Rote Armee mit den Einheimischen in ihrer eigenen Sprache, deutsche Fraktur.
    Wem das Dom Offizerov zu herrschaftlich drohte, der fand einen schmalen Weg geradeaus, entlang an Knoops erbeigentümlichen Bauten, und mochte ehrlich erschrecken über den Unterschied zwischen der türlosen Bahnhofsfront des Fürstenhauses und der südlichen, die mit dicken Balkonbuchten, Figuren in Nischen und einer gelassen ausschwenkenden Freitreppe den Süden kommandierte. Da war einmal ein Park gewesen, langsam aufgefressen von einer Neustadt, die alle Jahrhunderte seit dem fünfzehnten einmal abbrannte, bis die S. P. D. von 1925 hier eine Siedlung gemäßigten Wohlstands plante, mit Nachlässen im Bodenpreis, Kredithilfe und rechtschaffener Angst vor Übereilung. So wurden sechs Felder erst 1934 und 1935 zugebaut, so stand Gneez-Neustadt seitdem in den Bilderbüchern als Beispiel für die Blüte Mecklenburgs unter dem Nationalsozialismus abgebildet. Das war kaum Stadt. Es war ein Feld aus roten Villen, jede in einem umzäunten Gartenbeet für sich, zu Sechsergruppen gefaßt mit sparsamen Asphaltwegen unter dem Patronat der musikalischen Innung.

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