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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Tag beginnt in Cydamonoe, indem der »Auftritt der Stewardessens« ausfällt. Dann kommt Spielen, Lesen, Schwimmen, Fütterung der Haustiere zu Lande und in den Bäumen, jeden Nachmittag um halb fünf der jedem Kind verhaßte Kursus im Abschiednehmen. Eines der Spiele heißt und ist:
    Jumping up and down,
    Kanga-Roo ’s around the town!
    Denn weil Känga arbeitet, darf sie auf Urlaub gehen, und weil Ruh bei seinen Erwachsenen leben muß, er auch. Kongo bekommt nie Urlaub. Wie würde einem auch ein Freudenspiel einfallen, wenn jemand zurückkäme, und es ist dann bloß Kongo! Kongos Mehl ist öfter bunt denn weiß.
    Die Kinder sind in Cydamonoe allein, oder in Gesellschaft, wie sie es wünschen. Weggehen aus Traurigkeit allerdings ist nicht gestattet. Wenn ein Kind genug allein war und ist nun davon satt, braucht es sich bloß zu den anderen zu wünschen. Das geht in Gedanken, mit einem leisen Pfiff.
    Ebenso kann man Kinder holen, die nicht der Republik angehören, auch indem man bloß an sie denkt. Wenn man, so zu sagen, eine Konstanze oder eine Manuela zurückgelassen hat in Europa, dürfen sie zu Besuch geladen werden. Die wissen dann aber nicht, daß sie in Cydamonoe sind, und haben es vergessen, wenn sie morgens aufwachen in Hannover oder Düsseldorf.
    Wenn doch einmal etwas fehlt in Cydamonoe, geht man zum Haus Wunsch und Wille, Want and Will. Da ist es dann.
    Wie die anderen Kinder es machen am Abend, wußte Marie nicht. Danach darf man übrigens keins fragen. Was sie selber angeht, so legt sie sich eine Sekundenminute vor Dunkelwerden zu Bett mit Tigger und seinem Vater, schläft eine lange Zeit und wacht morgens auf an einem Ort, den kennt sie gar nicht, lange muß sie sich besinnen. Das ist … New York City.
    Damals gab sie es noch zu. Und habe ich etwa keinen sieben Jahre alten Zettel bei mir, wo ich gehe und stehe, auf dem verschieden gestellte Striche mich ausdrücklich und namentlich zu einem Besuch in Cydamonoe berechtigen? – Aber komm lieber nur, wenn du nichts anderes weißt! bat sie mich damals, als das Gewitter zu Ende war und sie einwilligte, es noch einmal mit dem Bett zu versuchen. Wie kurz so ein vierjähriges Kind daliegen kann.
    Nun soll es nicht wahr sein für die Marie von 1968, bloß weil sie bald elf Jahre alt ist. Bloß weil ihr nun New York gehört mit jeder Meile Ubahn, sämtlichen Inseln, allem Wetter, zu jeder Zeit, ohne eine Welt von Cydamonoe dagegen! Weil sie mich zum Spaziergang durch den Riverside Park abholt am Bahnhof 72. Straße in einem sorgfältig ausgewaschenen T-Hemd und in kunstvoll gealterten Jeans, weil sie nicht nur den Treppenaufgang im Auge hält sondern auch dem mächtig beleibten Polizisten neben ihr mit einem unbeweisbaren Seitenblick bedeuten kann, daß er sich denken soll, was sie denkt: Heißt ihr eigentlich Die Besten Jungs von New York, weil man euch immer wieder ertappt mit Schmiergeld an der Hand –? Früher wär sie einem solchen schweren Kerl in Uniform ängstlich aus dem Weg gegangen, schon wegen seines Knüppels aus Holz; dieser wendet sich ab von ihr, als hätte sie ihn gequält. Daß die einmal so dicke Kinderlippen gehabt hat, zwischen denen die Worte so pummelig herauskamen, wie überzogen mit einer struppigen Haut! Ihr Haar ist fast so weiß wie es im August sein wird. Kein Fremder wird bemerken, daß sie die gewünschte Person nun erkannt hat; das braucht Niemand nicht zu wissen, auf wen sie hier wartet. Dies bleibt unter uns.
    Ein Ehrenbürger von Cydamonoe allerdings hat das Vorrecht, gelegentlich zu reden in Wendungen wie »ausgenommen die Feuerklingel von Cydamonoe«, »nach dem Gesetz von C.«, aber nur verschlüsselt, nie unter Zeugen, und nicht mehr als zweimal im Jahr. Und warum heute, und warum heute ohne Verweis durch Runzeln der Stirn? weil heute der Third of July ist, und ein langes Wochenende beginnt, wozu wir einander nun Glück wünschen, eine der anderen.
    4. Juli, 1968 Donnerstag
    Im dritten Sommer nach dem Krieg war Mecklenburg sicherer als die Stadt, in der wir jetzt leben.
    Gestern ging ein Mann, in seinen Vierzigern, stämmig, schwarzhaarig, weißes Unterhemd, schwarze Hose, dunkle Socken, in die weibliche Abteilung der Bedürfnisanstalt im Central Park an der 85. Straße und schoß da auf ein vierundzwanzigjähriges Mädchen, wonach die Kugel ihr durch den Hinterkopf in die Kehle in die Brust drang, so daß sie tot war. Danach zog er sich aufs Dach und schoß um sich, ziemlich ruhig, aber nach Belieben. Das war an der

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