Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Seite der Fifth Avenue, wo Leute wie Jack Kennedys Witwe wohnen, und über hundert Polizisten stürmten das friedliche Gelände. Einer will den Mörder zehnmal getroffen haben. Er soll in der Sowjetunion, in Bulgarien, in Jugoslawien gelebt haben, kam hierher mit einem griechischen Paß; an den Wänden seiner Wohnung hingen Portraits von Hitler, Göring, Goebbels. Die Leute oben in der Fifth Avenue saßen Rang. »Die Polizei war absolut großartig« sagte Mrs. David Williams, Hausnummer 1035. »Es war so spannend wie nur irgend was im Fernsehen.«
Im Winkel um Jerichow wurde vornehmlich geklaut, und die Kettenhunde genossen ein ungeahntes Ansehen. Mundraub bis zu zehn Pfund Mehl galt als Steuer an den Hunger, eine verschwundene Flasche Schnaps reichte zu Racheschwüren gegen Unbekannt; von dem einen wie dem anderen erfuhren die Polizisten kaum, wozu Rechtshüter einladen zum Besichtigen, die fingen einen Hasen nicht mit einem Sack voll Salz. (Bei Cresspahls, hinter dem Friedhof, so dicht an der Kommandantur, kam selten etwas weg.) Für einen Aufschwung in der Wirtschaft wurde genommen, daß auch Gerät gestohlen wurde, zum Arbeiten. Das Hauszeichen ließ sich einschnitzen in den Stiel der Sense, wie aber ins Blatt? Warum Duvenspeck das Aufenthaltsrecht in der Stadt Jerichow im Stich ließ, als Willi Köpcke Zuzug nahm von den sowjetischen Lagern, der Direktor des Gaswerks floh wohl nicht von ungefähr, und wenn Mine Köpcke eine ganze Weile nicht zu sehen war auf der Stadtstraße, danach gleich müde wie zahm, so war sie gewiß für ein anderes Vergehen verhauen worden.
Die Straßen waren fast sicher, sowjetische Feldpolizei und vielerlei Marodeure ausgenommen; ein Kind konnte unbesorgt auf Reisen gehen, zumal wenn es einen recht weiten Pullover anhatte, ausgebeulte Hosen, deren Muster diskret an eine großkarierte Übergardine gemahnte, und wenn es an der Hand ein Netz trug, in dem ein Reisegenosse Sämtliches sehen konnte und erkennen, es verlohne den Griff nicht. Gesine Cresspahl stieg auf dem Fischland am Kiel aus einem Bus und ging durch Fulge nach Norden, rasch weg von dem gelben Ätzgestank des Holzgenerators; ihr fiel auch nicht ein, worauf sie vor drei Tagen in Jerichow noch vertraut hatte. Sie ging schamlos vorbei an der Bürgermeisterei; eine zurückkehrende Einheimische wird doch keine Kurtaxe zahlen. Hinter dem Ostseehotel, an Malchen Saatmanns Ecke bog sie ganz richtig ins Norderende ein, als wolle sie sich bei Bauer Niemann für die Ernte vermieten, blieb dann aber stehen vor einem ganz roten Katen, der mitsamt dem Dach zugestellt war von Hecken und wilden Büschen und üppigen Bäumen. Das war in dieser Gemeinde ihr Haus, nun ging sie nicht hinein. Dazu war sie zwar gekommen.
Sie vergaß, daß Alexander Paepcke es ihrem Vater ins Eigentum geschrieben hatte; es gehörte ihr bloß, weil sie hier mit Paepckes Kindern eine Heimat gelernt hatte. Der Zettel am Pfahl verriet, daß nun ganz Fremde auf dieser Büdnerei lebten; wer sonst in Althagen braucht ein Namensschild. Bloß Fremde waren imstande, den Damm aus Rollsteinen um das Haus nicht frei zu puken von Unkraut. Das Rohrdach war struppig an der Südwestecke, da würde es durchregnen schon im Herbst. Die Erinnerung verweigerte.
Sie wäre wohl weitergegangen auf dem festen Sand zwischen den dichten Hecken zur Kaufmannsecke, zur Bushaltestelle an der ahrenshooper Post, sie hatte auf dem Fischland nichts mehr zu suchen; bloß verjährte Gewohnheit führte sie zu dem Katen, wo die Paepckes die Schlüssel für den Winter abgegeben hatten. Sie war da nicht allein, ihr war bloß so zumute; unfehlbar grüßte sie die frühabendlichen Spaziergänger, immer zuerst, nicht weil sie jünger war, streng der englischen Sitte zuliebe, so daß manche der Herren Verwunderung zeigten. Die entging ihr. Sie stand endlich vor Ille, und beide erschraken vor einander fürchterlich.
Ille hatte den oberen Flügel ihrer Tür an die Wand geklappt, so daß es eine Snackdœr war; unverhofft stand sie so still, eingerahmt war sie. Sie sah das Kind, das früher immer mit denen von Paepckes gekommen war, die aber wußte sie tot. Ille war leicht zu erkennen, unveränderlich besinnlich im Gesicht, ihre Sommersprossen schienen noch mehr eingewachsen, ihr sprödes rötliches Haar ließ an das von Männern denken. Ille trug, im Haus, ein weißes Kopftuch, wie Leute auf dem Fischland es tun aus Trauer um einen Toten; sie hatte ihren Kapitän doch noch geheiratet mit zweiundvierzig
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