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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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gegen deren mecklenburgische Anteile von dunnemals; das Kind Cresspahl wurde gesehen, als es in diesen Tagen zweimal die Renaissance-Lichtspiele besuchte zum Preise von je acht Mark und fünfzig, kaum aber wurde es angetroffen in jenem verschüchterten, kleinlauten Zustand, der einem Lehrerauge so kenntlich und – wer sagt es denn! – tröstlich gewesen war. Die biß sich ja nicht einmal mehr auf die Lippen, wenn ihr die Antwort fehlte auf eine pädagogisch gegründete Frage. Die Versetzung zur Oberschule wurde ihr erteilt; dennoch, welch bedauerlicher Wankelmut war bei dieser Schülerin zu erinnern!
     
    – Das war gefälligst die Teilung Deutschlands, Gesine! sagt Marie. Sie wird doch nicht etwa Heimweh haben nach einem Deutschland. Nein, mitten auf der West End Avenue, vor dem Eingang zum Mittelmeerischen Schwimmclub, geht es ihr um die verschrieenen Kommunisten in Deutschland. – Jetzt konntest du den Sowjets nichts mehr übel nehmen! sagt sie.
    – Es waren die westlichen Alliierten, die angefangen hatten mit einer Umstellung der Währung, du.
    – Ein Krieg war in der Nähe!
    – Anfang Juli befahl dann die Sowjetmacht die Aufstellung deutscher Truppen unter dem Namen Kaserniert.
    – Du aber hattest die Zulassung zur Oberschule.
    – Marie, vom Krieg dachte ich, ich könnte ihn schon. Mir war Mecklenburg nicht weggenommen. Ich hatte etwas dazubekommen.
    – Hielt es an, Gesine? Hielt es an?
    – Bis September. Als ich zurückkam aus Johnny Schlegels Weizen.
    – Siehst du, Gesine.
    – Daß es nicht dauerte?
    – Ja. Oder soll ich das von dir lernen: Die Beständigkeit des Glücks?
    12. Juli, 1968 Freitag
    Friday. Noch neununddreißig Tage. Nicht einmal sechs Wochen.
    Lies den Wirtschaftsteil, Gesine! Es ist drei Minuten nach neun, Arbeitszeit. Kümmere dich um das Pfund Sterling. Träum von der alten Dame an der Threadneedle Street, statt über der New York Times!
    Da ist auch Statistik. Die jährliche Rate der schweren Verbrechen ist gestiegen am Ort, und es sind nur die gemeldeten. Autodiebstahl notiert plus 64,3 Prozent, Raubüberfall steht auf plus 59,7 Prozent, Mord wird mit 20,3 Prozent gemeldet, Vergewaltigung abgesackt um sechs Prozent. Gestern trat ein Mann in schwarzem Hut und dunklen Gläsern, eine Phiole mit Säure in der Hand, in die Filiale Woodbury der Chemical Bank an der Jericho Turnpike …
    Die Kommunistische Partei der Sowjetunion antwortet mit der Stimme ihrer Wahrheit immer noch einmal auf die tschechoslowakischen Zweitausend Worte, als wär sie gefragt. Gegen die wirklichen Ziele der neuen Leute in Prag will sie kaum etwas gesagt haben, Novotný mag ihretwegen gefehlt und versagt haben, aber so, mit »subversiven Aktivitäten rechtsgerichteter und antisozialistischer Kräfte«, es mißfällt ihr. Die wünschen, so sieht sie es, die Kommunistische Bruderpartei »anzuschwärzen und in Mißkredit zu bringen«. So sei es schon einmal gewesen, vor zwölf Jahren, in Ungarn. Ist es nicht so, daß die Partei Manches verspielt hat von ihrem Kredit? Ist es so, daß die Partei sauber geblieben ist von 1948 an, all die Jahre blütenweiß in Unschuld?
    Was immer die Angestellte Cresspahl tut, es wird den 20. August geben. Sie mag noch einmal an den Atlantik fahren, noch dreißigmal die Fenster hochschieben, mit Marie die Sachen für den Herbst und Winter kaufen, in das Bett D. E.s gehen wann immer es ihr beliebt, sie wird noch zwei Tonbänder verbrauchen »für wenn du tot bist«, Marie soll ihre Krebssuppe bekommen, vielleicht bleibt ihr noch ein Traum bis ins Aufwachen hinein, überhaupt und durchaus wird sie befangen sein in einer Einbildung von Leben. In Wahrheit rutscht sie auf dem glatten Eis der Zeit dem Termin entgegen, den de Rosny ihr mit der Obchodný Banka verabredet hat. Wenn ihr das Schiff erlaubt wird, geht sie um den 12. August aus New York weg, mit dem Flugzeug am 19. August. Am Mittwoch muß sie anfangen in Prag. Es wird jemand am Flugplatz sein. Die Pravda erwähnt Ungarn. Das kann sich anhören wie Panzer. Und wenn sie aus der Luft kommen?
    Es ist fast still im Büro Cresspahl. Das Telefon hat seit Beginn der Arbeit geschlafen. Durch die Tür schwappt manchmal das Rauschen von Henri Gellistons Rechenmaschine. Von unermeßlich unten dringt das fliegendünn gewordene Jaulen eines Lastwagens. Alarmanlage beschädigt. Die Passanten werden gespannt auf die Quelle des Lärms zugehen, sie gleichgültig hinter sich lassen. Hier schreibt jemand einen privaten Brief, das wird dich

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