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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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noch gereuen.
    Sehr geehrter Herr Professor, so heißt es, und wollen Sie verzeihen, eine Freundin hat mich hingewiesen, und weil ich der new yorker analytischen Praxis mißtraue, schon wegen der Sprichwörtlichkeit der Schädelschrumpfer, und mir der Ferndiagnose als einer Fehldiagnose bewußt bin, dann laß es doch, so wüßte sie doch gern, ob sie sich für psychisch gestört halten soll, da ihr aus beruflichen Gründen eine Veränderung ihrer Lebenssituation bevorsteht, eingreifend genug für die Abfassung eines Testamentes und Vorkehrungen für den Fall, daß ihre psychische Verfassung gefährlich werde, Lebenslauf beigefügt, was gibst du da alles aus der Hand!
    Schon die Schrift. Du führst da große ungebrochen runde scharf unten ausfahrende Züge, was einer mal eine Tulpenschrift genannt hat. Wenn du genauer hinsiehst, so sind die Buchstaben im mittleren Teil wohl flüssig, aber oft nicht in der vorschriftsmäßigen Rundung ausgezogen, also offen; die Ober- wie die Unterlängen sind verarmt (vereinfacht), insbesondere die letzteren kommen über senkrechte Striche nicht hinaus. Jedoch, wenn man Tulpen denken kann, es sind solche an kurzem Stil, aufrecht stehend. Eine ausgeschriebene Schrift. Was aber wird ein anderer da erkennen und was wird er daraus machen, daß du schwarze Tinte benutzt?
    »… weiß ich an absurden Akten aus meinem Leben nur die üblichen, eingeschlossen die Reaktion auf den Tod des Mannes, der der Vater meiner Tochter gewesen ist. Grundsätzlich möchte ich mich oft für normal halten. Die Ausnahme: ich höre Stimmen.
    … vergesse ich den Anfang. Ich nehme an: seit meinem zweiunddreißigsten Lebensjahr, erinnere aber keinen Anlaß. Ich will es nicht. Dennoch gelange ich (manchmal fast vollständig) zurück in vergangene Situationen und spreche mit den Personen von damals wie damals. Das ereignet sich in meinem Kopf, ohne daß ich steuere. Auch verstorbene Personen sprechen mit mir wie in meiner Gegenwart. Etwa machen sie mir Vorhaltungen wegen der Erziehung meiner Tochter (geb. 1957). Die Toten verfolgen mich nicht, meistens kann ich mich mit ihnen einigen in solchen eingebildeten Gesprächen. Nur, ist das eingebildet? Ich spreche auch mit Verstorbenen, die ich nur vom Sehen kenne, die mir als Kind nur so viele Worte gegeben haben, wie es für eine Begrüßung oder das Überreichen eines Bonbons nötig war. Jetzt werde ich von denen in Situationen hineingezogen, in denen ich nicht anwesend war, die ich auch keines Weges habe auffassen können, sei es mit einem acht-, einem vierzehnjährigen Verstand. Ich höre mich also nicht nur sprechen von der subjektiv realen (vergangenen) Stelle aus, auch von der Stelle des heute fünfunddreißigjährigen Subjekts aus. Gelegentlich wechselt beim Hören die eigene Situation von damals, des vierzehnjährigen Kindes, in die des Partners von heute, die ich aber doch kaum habe einnehmen können. Viele solcher imaginären Gespräche (die mir wirklich vorkommen) erschaffen sich selbst aus geringfügigen Ansätzen, aus einem Stimmton, aus einer charakteristischen Betonung, aus Heiserkeit, aus gleichen Wordtwurzeln des Englischen und Mecklenburgischen. Diese Fetzen genügen, in meinem Bewußtsein die Anwesenheit einer vergangenen Person zu erzeugen, ihr Sprechen und damit einen Zustand weit vor meiner Geburt, so den März 1920 auf dem Pachtgut meines Großvaters, als meine Mutter ein Kind war. Ich höre meine Mutter, die anderen Leute im Zimmer, nicht jedoch bloß als Zuhörende, sondern im Wissen, dies sei an mich selber gerichtet, was sich gegen Ende der Imagination (?) erweist als Zuwendung der Personen von damals an mich, die von heute.
    Bei lebenden Personen, abwesend oder vorhanden, läßt sich diese Neigung (?) meines Bewußtseins auch mißbrauchen, nämlich als Fähigkeit. So bin ich imstande, selbst wenn meine Tochter schweigt, aus mimischen Einzelheiten deren Gedanken nachzuvollziehen und denen zu antworten (in Gedanken), selbst noch im schlimmsten Streit, allerdings ohne daß ich beweisen könnte, daß die ›Sendung‹ auch bei ihr ankommt. Das Kind ist also selten sicher vor mir, fast gänzlich ausspioniert. Meine einzige Entschuldigung ist, daß ich dies unwillkürlich tue.
    Nicht nur bei dem Kind, auch bei aktuellen Unterhaltungen von heute, im Büro, in der Subway, mit Kollegen oder Fremden, läuft neben dem tatsächlich Gesagten eine zweite Strähne mit, worin das Ungesagte sich bemerklich macht, das nämlich, was das Gegenüber verschweigt

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