Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Metern pflügten, stiegen die Blütenreihen des Dorns wie Wasserfälle hinunter zur Ostsee, und später kam das eindeutige Schwarz der Holunderbeere hinzu, das Rot der Hagebutten, das Blauschwarz von Schlehe und Brombeeren. Es waren betrübte Ferien, denn sie sollte weg von hier, von Cresspahl und Jakob und Jerichow und Mecklenburg; sie aber sollte einverstanden sein. Ob sie allein leben konnte, darüber sinnierte sie, wenn sie oben auf einem Fuder lag und auf die gleißende Lübecker Bucht hinunterblickte, über die Knicks hinweg auf die Türme und Schornsteine der Stadt hinter dem Abgasdunst des Hochofenwerks Schlutup, auf die würfeligen weißen Hauskästchen Travemündes, die Umrisse der holsteinischen Küste im Norden, den geringelten Leuchtturm auf der Ecke Dahmeshöved, auf die britische Zone, den Westen, das Andere. Sie war wohl ängstlich und ließ sich gern ablenken von Johnny, dessen Stimme aus der Tiefe empordrang mit der Belehrung, die Lobelia inflata am Hofteich gedeihe auch am Mississippi, sei offizinell und trage in Wahrheit den Namen Indian Tobacco. Er wollte mir Appetit machen, damit ich sagte: Ja, schickt mich weg von euch.
Johnny war auch verlegen mit mir, wie fast alle Erwachsenen auf dem Hof. Seine Genossenschaft hielt nun einen Zuchthengst, und Ende Juli war eine Stute zum Decken gebracht worden, dabei hatte Cresspahls Tochter zugesehen, unbemerkt von Johnny, den die Aufmerksamkeit für den Vorgang wohl abgelenkt hatte. Am Abend, als er mich im Kinderheim glaubte, hörte ich ihn toben, und er hätte Axel Ohr am liebsten die Nase aus dem Gesicht gerissen; bloß daß gerade der ein Alibi im Kinderheim hatte. »Das Kind! Wie könnt ihr zulassen, daß das Kind!« Es war mir aber gar nichts geschehen. Zwar fand ich es schade, daß die Menschen die beiden Pferde so ganz als Tiere behandelten. Bevor der Stute unter dem Sprung des Hengstes die Hinterbeine wankten, wandte sie einen Moment lang den Kopf als bäte sie uns, wegzugehen. Und es wäre mir lieber gewesen, man hätte die beiden dann noch bei einander gelassen, statt die verstörte, befangene Stute gleich wegzuführen. Der Anblick sollte mir nun verboten sein. Noch vor einem Jahr hatte es kein Aufsehen gemacht, wenn ich meldete: eine von den Schwarzbunten bullt. Jetzt war ich ein Kind, aber entscheiden sollte ich wie eine Erwachsene.
– Du bist doch nun ein großes Mädchen: sagten sie, zuredend. Und ich war es! und lachte bloß über Hannas Päckchen aus Neustadt, in dem sie neben Tee und Tabak kein einziges Kleidungsstück für ein Mädchen unterbrachte, wohl aber ein Hemd, das Jakob saß wie nach Maß. Denn ich glaubte nun besser als sie zu wissen, wie es ist mit der Liebe, seit die Verlobungsanzeige Anne-Dörtes aus Holstein auf dem Radio stand, richtig mit einer Grafenkrone und auf Bütten. Das Herz schlug mir im Halse, als ich Inge Schlegel fragte, warum denn diese Karte nicht an Jakob weitergeschickt werde. – Ihm muß sie doch schreiben mit der Hand: sagte sie, wobei sie sich abkehrte, und das war gut, denn mir war viel Blut ins Gesicht geschossen. Deswegen also kam Jakob in diesem Sommer kein Mal dahin, wo Anne-Dörte gewesen war. Mit der Liebe war es demnach ein Unglück. Wen man sich wünscht, dem genügt man nicht, wer mitkommen soll, will zurückbleiben, und wer das angesehen hat, spricht davon als einem Trauerfall. Und was mich anging, so sollte ich also auf Jakob ganz verzichten. Und obendrein war mir verwehrt, mein Geheimnis auszusprechen.
Es war wegen der Kriegsgefahr. Da war ich nun wieder kein Kind, wenn sie mir kamen mit der sowjetischen Blockade gegen die berliner Westsektoren und der Versicherung, die entzweiten Alliierten seien auch anderwärts im Streit um die endgültige Verteilung der Kriegsbeute, denk doch mal an den griechischen Bürgerkrieg, Gesine! Das ging nur so mit bulgarischen und albanischen Eingriffen, mit Truman-Doktrin und Containment, das müßtest doch eigentlich du uns auseinanderklamüsern, Gesine. Und daß die Sowjetunion keine Atombomben hat, begreif es doch, Gesine. Aber die wehrte sich einzusehen, warum gerade sie weggebracht werden sollte, bloß weil es mit ihr zu machen ging. Und so oft hörte sie im Ton der Erwachsenen, unausgesprochen: Das kann ein Kind doch kaum verstehen; dann sperrte sie sich.
Es gab Augenblicke, da war ich überzeugt. An einem Julimorgen hatten wir auf dem Berg hinter dem Gräfinnenwald gestanden, Johnny mit der Uhr in der Hand, denn um sechs Uhr null Minuten sollte es
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