Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
Vom Netzwerk:
zusammenbiß, mich zusammenriß, ein großes Mädchen war …
    Manchmal sah ich mich in einem englischen Internat. Es war auf dem Lande, und weit von einem Bahnhof, damit ich rechtzeitig geschnappt wurde bei einem Fluchtversuch. Der ganze Tag unverrückbar eingeteilt, mit einer Stunde Freizeit. Die Lehrer konnte ich mir nur als unnachsichtige Damen denken, deren Lob oder Anerkennung würde so sparsam ausfallen, in Blick und Sprache, es würde mir entgehen. Nie würde ich allein sein, in den Schlafsälen, in der riesigen Speisehalle, in der Freizeit, und immer allein. Auch in England waren die Lebensmittel rationiert, aber wenn die Briten ihrem Cresspahl sein Konto bei der Richmond Bank of Surrey aufschlossen, erlaubten sie eine ration card für seine Tochter dazu. Zu einem Taschengeld würde es reichen. Das Warten auf die Post. Die Schul-Uniform. Die Ausgeh-Erlaubnis. Stunde und halbe Stunde punktiert durch den Schlag der Uhr im Kirchenturm, die läutende Fremde, noch in der schlaflosen Nacht. Immer noch das th vor dem Spiegel üben, die Zunge zwischen die Zähne! und dann die Zunge zwischen den Zähnen verlernen. Cricketgewimmel auf einem leuchtenden Rasenfeld, und ich dazwischen als das deutsche Kind, das faschistische, der geschieht es ganz recht, daß sie nie Besuch bekommen hat, nun schon im dritten Jahr.
     
    – Hat Cresspahl deine Gründe gelten lassen?
    – Zu Gründen ließ er mich nicht kommen, nach einem ganzen Sommer. Er sah mich an, er nickte, so daß ich erschrak. Nun hätte ich gern noch einen Tag Bedenkzeit gehabt.
    – Es wäre zu deinem Besten gewesen: sagt Marie, dieses unerschütterliche Kind, das schon am ersten Abend in einem Ferienlager heult vor Heimweh. Sieh dir das an, wie kühl sie auf dem Rasen liegt in diesem heißen feuchten Garten, wie sie ihre Angst versteckt in einem Zukneifen der Augen.
    – Es wäre zu Cresspahls Bestem gewesen. Das war ich ihm schuldig, und war feige.
    – Gesine, ich bin ja auch feige. Ich will ja auch nicht ohne dich sein; bloß weil ich denke, du machst dir was aus mir.
    15. Juli, 1968 Montag
    Die Sowjetunion läßt uns durch die Pravda in Wahrheit sagen, wie sehr sie sich verwundert über das »krankhafte Interesse« des Westens an ihrem Kriegspiel im Nordatlantik. Sie beklagt sich über Beobachtungsflugzeuge des Nordatlantischen Vertrages im Gebiet der Übung, über die Anwesenheit eines britischen Zerstörers. Wen das kalt läßt, was die sowjetischen Kriegsschiffe da anstellen mit ihren polnischen und ostdeutschen Bundesbrüdern, der ist demnach gesund.
    Den Abzug ihrer Truppen aus der Tschechoslowakei haben die Sowjets gestoppt. Seit gestern beraten sie in Warschau mit ihren polnischen, ostdeutschen, ungarischen, bulgarischen Freunden über die Č. S. S. R., ohne sie, und wenn die offizielle Presse einen »entschiedenen Gegenschlag gegen die reaktionären und imperialistischen Manöver« in jenem Land für lebenswichtig erklärt, so dürfte de Rosny allmählich aufgeben. Im Gegenteil, da hält er sich an Tito, nach dessen Meinung kein Mensch in der Sowjetunion so »kurzsichtig« sein kann, daß er Gewalt gegen die Tschechen und Slowaken anwendet. De Rosny ist ein Titoist.
    Auf Tito haben wir ungemein böse sein müssen. Es wurde uns gleich bei der feierlichen Aufnahme in die Fritz Reuter-Oberschule hingestellt als eine unserer Hauptbeschäftigungen, und oft sind wir in jenem Herbst in der Kolonne von vierhundert Oberschülern durch Gneez vors Rathaus gezogen mit Spruchbändern, auf denen wir den Sturz Titos verlangten, wozu wir etwas sangen von Spaniens Himmel, der seine Sterne über unsere Schützengräben ausbreite. Von der Kälte war keine Rede in jenem Lied, mir wird kalt bei dem Wort Spanien. Wir mußten lange stehen im Kalten, bis der Markt mit den Demonstrationszügen voll bestanden war (die vom Sägewerk Panzenhagen kamen regelmäßig zu spät) und die drei Leute auf dem Rathausbalkon anfangen konnten mit ihren Ansprachen. Immer wenn einer fertig war, riefen wir im Sprechchor unsere Beschwerden gegen Tito, und ich wäre gern so begeistert gewesen wie Lise Wollenberg, die mir noch am Morgen im Fach Gegenwartskunde zugezwinkert hatte, als sie die fünf Ärgernisse des Genossen Stalin mit Tito aufsagte, wobei ich ihr das falsche Primat der Landwirtschaft einflüstern mußte. Denn sie war meine Freundin.
    Sie sprach so von mir. Wenn zwei Mädchen jahrelang jeden Schultag eine Stunde im Zug verbracht haben und noch Zeit auf dem Weg dahin, fahren

Weitere Kostenlose Bücher