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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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losgehen. Die Rote Armee hatte auf ihren Anschlägen die Jerichower gebeten, alle Fenster aufzumachen, auch die nach Süden gehenden, das ging noch die Leute in Rande an; Johnnys Hof saß hinter einer hohen Bodenfalte, geschützt vor der Druckwelle. Wir waren an die achtzig Meter über dem Meer, wir sahen die Wohlenberger Wiek, hinter der der tiefe Vorstoß der Wismarbucht ins Festland am Turm der Marienkirche zu ahnen war, der Kirchturm am Ende des Kirchsees in der Insel Poel ließ sich deutlich ausmachen, dahinter stieg das Land wieder an in Bögen aus bewaldeten Kuppeln und Hügeln im reinen frischen Sonnenlicht. Das alles sollte ich aufgeben. Da uns die Sicht auf Jerichow verlegt war, glaubte ich einen Herzschlag nach sechs, es werde ausbleiben, und der erste Knall ging los. Die Gewalt der folgenden Explosionen mag mich getäuscht haben, aber ich war sicher, daß sich die Erde geschüttelt hatte und uns beim nächsten Stoß abwerfen werde. Es meinten aber alle das Beben gespürt zu haben. In der langen Stille erschien die erste Rauchwolke, ein Blumenkohl, der im Aufsteigen einen Stiel nach sich zog. Als der weißliche Pilz seine Ränder umzustülpen begann, stieg neben ihm der nächste auf, und als der erste schon eingedellt war vom Seewind, waren es vier. Es war mitten in der Ernte, aber Johnny nahm mich am Nachmittag mit zu dem, was einst der Fliegerhorst Mariengabe gewesen war. Das Gebiet war auf hundert Meter Abstand abgesperrt, aber auch aus der Entfernung war zu erkennen, daß die ganze Anlage hin war, die Bauten flach, die Rollbahnen Ketten von Löchern. Das war schwerlich wieder aufzubauen.
    Es wurde auch nicht wieder aufgebaut, das wurde von deutschen Strafarbeitern handlich gehackt und aufgelesen und abgefahren, und Johnny bewies es mir: der Flughafen hatte zu dicht gelegen an der »künftigen Front«, der Grenze zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen; er wäre ja schon in Reichweite von Artillerie gewesen. Und wenn nun auch noch die Briten anfingen mit der Versorgung Westberlins durch die Luft, warum sollten die Sowjets ihnen einen so prächtigen Landeplatz liegen lassen für Notfälle? Dann war wieder ich klug und hielt dagegen, wie beliebt die Sowjets sich hätten machen können bei den Flüchtlingen, wenn sie denen die Kasernen gelassen hätten als Wohnräume. Damit hatte er leichtes Spiel: wenn sie Ärger riskierten bei den Deutschen, wie unausweichlich mußten denn ihre militärischen Gründe sein! Nein, du: der Russe wird in taktischer Hinsicht erheblich unterschätzt, und nun erst in strategischer. Einmal versuchte ich es mit der Hauptabteilung Grenzpolizei, die die Sowjets seit Juni aufstellten. Das war für Johnny ein Beweis mehr. »Der Russe« richtete sich ein auf einen Krieg: er stellte deutsche Verbände unter Waffen. Da sollte ich weg.
    Und es würde anders sein als in »der Villa«. Das war das Ferienhaus, das ein hamburgischer Makler noch zu kaiserlichen Zeiten auf das Hochufer hinter Schlegels Wäldchen gestellt hatte, die zusammengeschnurrte Miniatur eines Schlößchens, mit zu vielen Fenstern und einem wahrhaftigen Turm. Das war der evangelischen Inneren Mission zugewiesen als ein Kinderheim, da ging Cresspahls Tochter zu Besuch, Axel Ohr zuliebe, denn so konnte er mitkommen, ohne daß es aussah, er sei verliebt in eine Elisabeth aus Güstrow, er, Axel Ohr! Die Kinder hatten es streng. Was die kirchlichen Pflegerinnen da an Ordnung verlangten bei Tisch und in der Freizeit, da konnte einem der Appetit vergehen wie der Spaß. Wer allerdings krank war, konnte sich einiger Zärtlichkeit versehen. Fast jeden Tag aßen diese Kinder Suppe aus Melde, mit Nudeln als Einlage; aber es bekam ihnen, am Ende dieser vier Wochen hatten sie zugenommen. Johnny hatte da früher zugebessert mit Schrot und Fleisch, was eben seine Geschäfte und das Soll zuließen; die neue Leiterin des Heims hatte Anstoß genommen an einer »gottesfeindlichen« Bemerkung Johnnys, da war er selber böse. So war Johnny auch; wenn Einer ihn dumm anredete, vergaß er den, und mochte das Kindern schaden. (Außerdem konnte er guten Gewissens an die Care-Pakete denken.) Viele von denen waren noch nie an der See gewesen, und am letzten Tag des Durchgangs sammelten sie Strandsand für die Mütter, die endlich wieder einmal scheuern wollten. Und diese Beterei, diese Andachtstunden in einem fort! Johnny gab es zu. Religion und Übungen darin würde es in England wohl in einem Übermaß geben. Aber wenn ich die Zähne

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