Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
und dieser östlichen Seeküste, einen Erschöpften hat sie mitgenommen auf einen Fußweg über den Fährbahnhof hinaus, die Bay Street hinunter. Der Riverside Drive im Halbschatten, er hält 75 Grad Fahrenheit; dort müssen es fast neunzig sein. Der Antrag ist eine Ehre, mir tut Marie sie selten; wird er ihn zu würdigen wissen? Die Bay Street ist ein drei Stunden langes Band aus Staub, überweht mit dem brackigen Geruch des Wassers zwischen den Piers und Lagerhäusern, eingefaßt mit verwitterter Holzarchitektur, Schuppen, Tankstellen, verreckter Industrie und jenen Hüttchen, in denen blaue oder rote Neonschlangen Bier versprechen. Wenn du mich fragst: sie sucht da ein Amerika aus meines Vaters Jugendzeit. Aber es ist wahr, wenn da Wind kommt, hat er einen langen Anlauf über die Bucht, und in der dunstigen Ferne verspricht sich der Aufbau der Brücke über die Verrazano-Enge, eine Aufhängung von fast 1300 Metern, im Anblick wachsend.
Mit euch, Herr Doktor, zu spazieren …: nahezu aufgeregt hört Marie sich an in ihrer neuesten Positionsmeldung. Es ist bloß, in der Gegend von Stapleton hat D. E. sich bei seiner Führerin einen Umweg erbeten, bloß einmal die Chestnut Street hinauf, und sie gewährte ihm die Gunst, da er Gründe seiner beruflichen Vorbildung vorschützte. Dort aber, an einer Ecke mit der Tompkins Avenue, fanden sie nunmehr das Haus aufgestellt, in dem Giuseppe Garibaldi zwischen 1851 und 1853 seine Rückkehr zur italienischen Revolution abwartete, ein Kerzenmacher einstweilen und vorläufig nur berühmt wegen seines Wohngefährten Antonio Meucci, weil der nämlich das Telefon früher erfunden haben wollte als Alexander Graham Bell, so eines, vermittels dessen Marie eine Leine aus Worten auf die Insel Manhattan wirft. Bisher hat sie nur den Garibaldi gekannt, der auf dem Washington Square verharrt in seinem verdigris … seinem Grünspan, den Säbel fest in der Scheide; Marie ist sogar vorenthalten, daß er ihn zieht und hebt ein jedes Mal, wenn eine Jungfrau zu seinen Füßen schreitet; nun rechne mal aus wie oft am Tag, Anita.
(In einer Stadt wie dieser, Anita, ich hab dem Kind im Alter von Zehn erklären müssen, was Männer von den Frauen auch sich erwünschen, nämlich zur Vorsorge für den Fall, es will einer dazu Marie zwingen. Sie blickte finster, ungläubig; enthielt sich des Fragens, bis zum Ende, als sie mit einer Art Empörung bestätigt wünschte: Du und D. E., ihr … ihr auch? Ihr fehlte das Wort für die Tätigkeit; ich gedenke es ihr noch acht Jahre zu ersparen. Wie das machen in New York City.) Schrieb bis hier und
Die Erde hatte sich schon so gegen die Sonne gedreht, sie bekam die falschen, giftig strahlenden Flecke und Farben und Schlieren, damit das Ende des Planetens uns angezeigt werde den täglichen Tag; um halb sieben bekam ich eine Einladung zum Abendessen. Ob du wohl rätst, mit welcher Gegenfrage ich angenommen habe? So ist es. Welches Kleid ich anziehen soll.
Du sagst, Anita: Das tut man für jemanden, den willst du …
Ganz recht. Es sollte dann das »Gelb-und-Blau-Roh-Seidene« sein, und ich hatte sie zu suchen so tief im alten Brooklyn, ich mußte im Stadtplan forschen, obendrein im Linienplan der Subway. Tiefes BMT -Gebiet, sage ich dir. Dort fand ich die beiden bei Chinesen, eher wie in einer privaten Gaststube als einem Lokal, die kennt D. E. auch länger als seit vorgestern. (Da ich meine Geheimnisse behalte, wie darf ich ihm die seinen verwehren.) Und wie immer, wenn er der Geber ist der Gastlichkeit, betaten die Wirtsleute sich mit »che bella signorina«, »carina«, alles mit Ausrufezeichen, nur eben auf chinesisch versteht sich, wenn du dir das übersetzen möchtest. Und ich bekam eine Hand auf die meine gelegt, und eine auf die Wange. Denn was trug ich über dem »Gelb-und-Blau-Roh-Seidenen«? Eine Herrenjacke aus Dublin, mit einem Schlips in der Brusttasche gefaltet, und was ich in meinem Portefeuille mitführte an verlorenen Gegenständen, du wirst es dir denken, geneigte Anita und Freundin des Hauses.
Du sagst: Wenn einer und sieht dergleichen …
Und hört, Anita. Das ging so:
– Wir haben uns feige betragen. Von South Beach haben wir den Bus genommen, nach Bay Ridge.
– Was für ein Wetter zum Bügeln.
– Du treibst dich eben lieber umher in der verödenden Wildnis von Staten Island.
– Weißt du, was ein Feigenbaum auf Staten Island anzeigt? Sicher denkst du: die Jahreszeit.
– An der 96. Straße und Broadway? Bei Charlie? Der
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