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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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sie nach einer Weile entweder im guten gemeinsam in einem Abteil oder im bösen getrennt. Zu einer erklärten Feindschaft fehlte der Cresspahlschen vorläufig der Mut. Sie hatte sich fast allein mit der Wollenbergschen wiedergefunden in dem Wartesaal, als der die neunte Klasse sich erwies, und Lise war bei vielen Lehrern ein Liebling, blond wie sie war, befangen-mädchenhaft wie sie blicken konnte in Augenblicken der Gefahr, scherzhaft-vertraulich, wenn es ans Einschmeicheln gehen sollte. Die Cresspahl hätte schwer in Worte bringen können, was sie denn störte an der Wollenberg. Schließlich dachte sie selber insgeheim, jener Jugoslawe möge die Wirtschaft des eigenen Landes genauer kennen denn der weise Führer der Völker im fernen Kreml, und nannte ihn auf Verlangen den Marschall der Verräter; lügen taten wir alle, unseren Eltern zu Gefallen. Lise übertrieb vielleicht in der Art, wie sie dabei um sich blickte, nachsichtig lächelnd mit ihren sanften Lippen, als wolle sie uns sagen, einladend: Der Benotung wird es nicht schaden … es ist doch ein Spaß … wir legen den Kramritz eben rein … es ist doch egal …
    Der Fehler war einmal begangen, als man in der Neun A Zwei wieder einen gemeinsamen Tisch genommen hatte. Das hält zusammen fest auch in der Zeit, da man Nebendinge betreibt. Sie blieb an meiner Seite, während die Schüler der oberen Klassen uns Mädchen aus den Neunten musterten auf Tauglichkeit, Willigkeit voraussetzend. Das war wie auf einem Markt in den Pausen. Aber einmal war ich es allein, die beiseite gebeten wurde von den Herren Sieboldt und Gollantz, Elfte Klasse, die trugen schon lange Hosen. Die Herren wollten wissen, was die Leute in Jerichow dachten über die Sprengung von Kasernen und Unterkunft für Flüchtlinge. Kaum hatte ich Luft geholt, errötet ob der widerfahrenen Ehre, da sprudelte Lise schon los: die Explosionswolken seien gewesen wie Fallschirme, die vom Boden aufsteigen, jetzt habe sie etwas mehr von der Atombombe begriffen … es war wortwörtlich, was ich ihr erzählt hatte. Sieboldt und Gollantz entfernten sich umgehend. Auf meine Vorhaltung sagte Lise, es sei doch sie die Angesprochene gewesen, und was komme schon an auf ein Wort. Gollantz hielt mich noch einmal an, allein, dem ging es um die Wahl eines Sprechers für unsere Klasse, damit sie vertreten war in der Schülerselbstverwaltung, der Sieboldt vorstand. Leider erzählte ich das Lise. Sie war nur beunruhigt, weil die Herren nicht an sie herangetreten waren und tröstete sich in der erwachsenen Art, die sie an sich haben konnte: Die gehen ja doch zwei Jahre früher ab, dann hätten wir dagesessen. (Wir.)
    Ihr war wohl bewußt, wie hübsch das aussah, wenn sie ihre langen blonden Locken schwenkte neben einer, die ihre dunklen Zöpfe ruhig halten will; also war die Wollenberg in der Nähe der Cresspahl, wenn sie Einladungen bekam zum Spazierengehen, ins Kino, und nahm für uns an. Da kam Gabriel Manfras, der in der Neun A Eins gestrandet war, da kam Pius Pagenkopf, Dieter Lockenvitz … und schon hatte sie geschworen, wir seien unzertrennlich, so daß ich mitgehen mußte wie eine Anstandsdame. Manchmal sah ich sie an von der Seite, wenn auf die Leinwand eine helle Szene projiziert war, Reiterhorden über eine Steppe stürmend, dem guten Tachir seine dumme Suchra zu holen oder zu bringen; im Chor mit den anderen rings um uns, aus vollem Halse feuerte sie die Komparsen an wie jene, die in Kolberg April 1945 den Endsieg vorspielten. Sie konnte sich so vergessen. Sie war ganz im Augenblick. Bei der Aufführung von Barlachs »Sündflut« spürte ich viele Blicke auf uns und Lises schmerzlich-versonnene Innigkeit; in der Pause wußte sie sich nicht zu fassen vor Kichern über Frau Landgerichtsrat Lindsetter, die eingeschlafen war, deren sanftes Röcheln Lise während der Vorstellung kalt gelassen hatte.
    Mit den Jungen betrug sie sich schnippisch bis zur Rätselhaftigkeit. Die mußten ernstlich das Wort an mich richten, sogar dem maulfaulen Manfras fiel eine Menge ein zur Inneren Endmoräne am Beispiel des gneezer Stadtsees; bei fast jedem habe ich es fertig gebracht, mich zu verdrücken unter einem haltbaren Vorwand. Am Tage danach war Gabriel Manfras noch mehr in sich gekehrt als wir gewöhnt waren von ihm. Pius Pagenkopf, ein Langer, Dunkler, der Älteste der Klasse, dieser Pagenkopf ließ nach dem Alleinsein mit Lise für Tage den Kopf hängen über seinen Heften, damit er zuverlässig ihren Anblick vermied.

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