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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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wollte wie einen schäbigen Hintergrund, es war das Ende; vor einem Bruch wurde ich bewahrt. Denn nach den Weihnachtsferien fand Heinz Wollenberg es doch unter der Würde eines Geschäftsmannes, seine einzige Tochter morgens wie mittags auf dem schmutzigen, kalten Zug zu wissen; für Leute vom Schlage der Wollenbergs fand das Wohnungsamt in Gneez ein Zimmer für Lise, bei einer »Verwandten«. Außerdem galten die Lebensmittelkarten inzwischen nur an dem Ort, an dem sie ausgestellt wurden; in Gneez gab es oft Zucker oder Kohleanzünder, wenn sie in Jerichow fehlten, davon konnte Lise am Wochenende mitbringen.
    Wenn wir verschiedene Wege hatten zur Schule, mußte ich in der Klasse wo anders sitzen. Wenn wir einander bloß in der Schulzeit begegneten, konnte ich bei unseren Aufzügen ein paar Reihen hinter ihr marschieren und ihr zusehen von fern. Da schwang sie die Beine und schmetterte hingegeben: »Du HAST ja ein Ziel vor den Augen / da MIT du in der Welt dich nicht irrst …«; da hüpfte sie und rief fröhlich die Losung gegen die griechische Regierung, die Jubelsprüche über Maos Sieg bei Sütschou, die Haßgesänge gegen den Renegaten Tito. Wir waren auseinander.
    Sie hatte ein Ziel vor den Augen; sie ist heute eine Steuerberaterin im Sauerland, Bundesrepublik. Ihr Kleid, grünes Organza mit eingewebten dicken Punkten, es hätte mir gestanden auf jenem Klassenfest, bei Geburtstagen; ich habe es nur anprobiert.
    16. Juli, 1968 Dienstag
    Das Niederträchtige ist, die Geschäftsleitung tut es ohne Warnung. Dann steht man ausgestellt auf dem Podium in der Angestelltenkantine, unter den Blicken von vierhundert Leuten, womöglich in einem Kostüm, das sich beißt mit dem gelblichen Wandanstrich, soll aber stille halten und tun, als gehe man gänzlich auf im würdigen Anspruch des Momentes. Die Zeremonie ist verlacht, macht im Augenblick doch den Atem flattern; alle betragen sich andächtig nach dem Muster des Vorstandsvorsitzers, der einem dann stramm gegenübersteht in seinem Bemühen, am Leibe etwas größer zu erscheinen, und die Lobrede so verkrampft auswirft, das Opfer fühlt sich angespuckt. Es ist eine der Gelegenheiten, die de Rosny dem Titularpräsidenten eigens hergerichtet hat, damit der sich auftreten fühlt. Wer Pech hat, trägt an einem solchen Tag ein Kleid in den Farben der amerikanischen Fahnen, die für den Anlaß kreuzweise hinter dem Präsidenten aufgereiht sind, und auch mit Sandalen ist manche schon böse hereingefallen.
    Die es trifft, sie wären doch gern in der Mittagspause noch einmal zum Friseur gegangen; es erwischt sie aber von einer Minute zur anderen. Es kann an jedem Arbeitstag im Jahr passieren, so wird es halb vergessen; ist aber der Grund, aus dem Urlaubstermine sechs Wochen im voraus beantragt werden sollen. Und wer nachdenkt über die Innigkeit seiner Arbeit für die Bank, wie soll er solche Auszeichnung denn fürchten. Obendrein gilt die Teilnahme an der Veranstaltung als freiwillig; so manches Opfer geht dahin und möchte bloß zeigen, wie ergeben es der Firma ist. Die Angestellten sind gehalten, diesen morgendlichen Umlauf säuberlich zu paraphieren; wer es wagt, darf schon um vier auf die Straße. Die Angestellte Cresspahl ahnt, was draußen auf sie wartet, unten auf der Dritten Avenue stehen Autos mit hochgeklappten Motorhauben, denen kocht das Kühlwasser; wie gern würde sie die flüssige Hitze dieses Nachmittags in einem weniger besetzten Ubahnwagen überstehen, vor der Stoßzeit. Jedoch hat sie Besuch.
    – Geben Sie’s auf, de Rosny, Sir: sagt sie. Das ist ein Spiel geworden zwischen ihr und dem Chef, seit er neuerdings »zum Tee« sie und ihr Büro benutzt. Er beweist ihr das Wachstum der tschechoslowakischen Anleihe; sie hat ihn heute widerlegt mit dem warschauer Communiqué, das der Č. S. S. R.-Führung einen strengen Brief von den Kampfgenossen ankündigt. Und wohin sollten die »aggressiven imperialistischen Kräfte« mit ihren »subversiven Aktionen« denn gehen als in den Bach, wenn das Zentralkomitee in Prag einen Mut vor Bruderthronen zeigen will, statt in Demut sich zu verbeugen? Nun wünschen sie auch noch den Warschauer Vertrag umzubauen, so daß jedes Mitgliedsland einmal herankommt an das Oberkommando und einem politischen Mißbrauch des Bündnisses der Riegel vorgeschoben wird. Das ist das Ende von der Leine, es muß den Sowjets über die Hutschnur gehen. Dazu hält de Rosny den Kopf schräg und verengt die Augen in einer zweifelnden Art, als

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