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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Lockenvitz, ein schüchterner, spillriger Brillenträger, ein Primus, sackte in vielen Fächern ab auf Drei, nachdem er sich Lise erklärt hatte. Und alle drei paßten mich ab, jeweils in Heimlichkeit, als Anfang November die neuen Personalausweise ausgestellt wurden für jeden über fünfzehn, und baten mich zu schummeln, wenn ich mit Lise zu Stellmann ging. Ich sagte es ihr. Sie lachte, ganz tief in der Kehle belustigt; sie kicherte, während sie sich zurechtmachte für die Gelegenheit. Es kam viel ermunternde Sanftmut auf das Paßbild. Sie schenkte mir eins, das ließ ich Pius ab. Aber einmal fiel Lockenvitz etwas aus der Brieftasche, das war ein Paßbild von Lise Wollenberg, das steckte er vor ihren Augen in sein Jackett dahin, wo das Herz sitzt und arbeitet; sie lachte los, den Kopf hochreißend wie ein Fohlen. Von Manfras hieß es, er habe zu Hause auf dem Vertiko die Wollenbergsche zu stehen im Format 18 mal 24, und das Bild sollte gar nicht nach dem Ausweisfoto sein. Eines Tages zog Pius Pagenkopf, an der vordersten Reihe vorbeigehend, Lises Paßbild aus der Hemdtasche, zerriß es und warf ihr die Schnitzel auf ihren Tisch. Sie lächelte ganz befriedigt und fragte hinterher, ob er noch eins wolle. Was sollte ich antworten, wenn sie mir ihr Betragen erklärte mit der »Albernheit« der Jungen. Weder Pagenkopf noch Lockenvitz waren albern; keiner konnte das von Gabriel sagen.
    Wir alle wollten Pius zum Klassensprecher, und er wäre es geworden, hätte bloß Lise den Mund gehalten über eine Art ernsthafter Jungen, die werden uns verteidigen bei Wind und Wetter; Pius zog seine schwärzlichen Augenbrauen zusammen, wie jemand mit Zahnschmerzen, und strich den Namen Pagenkopf aus der Liste. Lise verschlug es keineswegs die Sprache, sie setzte Lockenvitz zu. Der sträubte sich lange, er war Flüchtling und würde es bitter haben mit den Einheimischen; ihr zuliebe ließ er sich aufstellen, im dritten Wahlgang kam er durch. Er büßte daran lange, denn als im Dezember die Schülerselbstverwaltungen verboten wurden, wählten die Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (F. D. J.) ihn zum Vorsitzenden unserer Klassengruppe, er war nun einmal Sprecher gewesen. Wir hatten frei, er mußte zu Sitzungen mit der Zentralen Schulgruppenleitung (Z. S. G. L.), wo er denn Sieboldt wie Gollantz wiederfand. Wir falteten die Zettel nicht auf, die er Lise schickte während des Unterrichts, er war uns empfindlich genug; er sah sie auflachen wie in heller Freude, daß er sich schämte, und wir eine Wut auf ihn bekamen. Einmal ließ sie ihm einen Zettel zukommen, der war unbeschrieben. Lockenvitz war albern, der ließ eine Zeitlang seine schwermütigen Blicke ausruhen auf mir (und besaß ein Paßfoto von mir. Ein einziges hatte ich verschenkt, an Lise). Sie brachte zuwege, daß ein Passus in der Zeitung unseres Klassenfestes 1949 dem Jugendfreund Lockenvitz bekräftigte, er liebe alle Fraun, ob blond, ob braun.
    »Wir«. Mit ihr sollte ich mich eintragen lassen bei der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, die nachmals die Gesellschaft für die Freundschaft wurde. Dr. Kramritz hatte den Nutz und Frommen »gesellschaftlicher Betätigung« erwähnt; dies war eine von den minderen. Kein Zweifel, das hatte der alte Wollenberg seiner Tochter angeraten, der wollte sich noch anderswo absichern als in der L. D. P. D.; Cresspahl aber winkte ab, der noch diesen Schutz hätte brauchen können. Beinahe ein englisches Schulkind, war ich ohnehin auf seiten der Briten und beschimpfte sie ausgiebig, wenn sie in unserer Gegend zu Bruch gingen mit einem Luftbrückenflugzeug und im schönberger Krankenhaus lagen. Lise ganz allein vor einen Schreibtisch treten zu lassen, vor einen Fremden dahinter, ich gönnte es ihr; an die Tür hatte ich sie gebracht, sie ja bei Laune zu halten.
    Denn Jakob hatte es unklug gefunden, daß diese Lise nun wußte von meiner Abneigung gegen sowjetische Kultur, einer ausgesprochenen; er wandte den Kopf langsam hin und her, sein grundsätzliches Kopfschütteln. Ich begriff den Schaden erst in seinem Rat: Die zieh dir bloß.
    Jakobs wegen überwand ich mich zu Dank, als Lise mir ein Kleid schenkte; da sie aus den neuen Staatsläden moderne bekam. Jakobs Mutter war es ja zufrieden, wenn ich sauber angezogen war unter meinem schwarzen Mantel; Cresspahl wie Jakob sahen mir ins Gesicht oder merkten die kleinste Schramme an der Hand, ein Blick für angescheuerte Kragen ging denen ab. Daß Lise mich verschönern

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