Jahrmarkt der Unsterblichkeit
halb in einem Grab verwelkt. Sehr weiblich und atemberaubend und gleichzeitig abweisend. Die klare Stirn und die schön modellierte Wangenlinie sprachen von Klugheit und Charme, doch um die sensiblen Mundwinkel lag eine undefinierbare Schwäche. Jetzt trug ihr Mund den Ausdruck des Unwillens. Die großen, verwirrenden Veilchenaugen blickten ihn durchdringend an — spöttisch und voll duldsamer Geringschätzung für das, was sie sahen.
Als Sears mit offenem Mund dastand, ertappt und im ersten Augenblick seiner ganzen Haltung beraubt, fühlte er eine Welle heftigen Grolls und Zorns gegen diese Person in sich aufsteigen, die seine Maskierung so rasch durchschaut hatte und das in ihm witterte, was er wirklich war. Es war nicht fair von ihr, aus der sorgfältig aufgebauten Persönlichkeit des Mr. Joseph Deuell Sears, des großen Mannes von internationaler Bedeutung, einen einfachen Joe Sears, einen Angeber und vermeintlichen Schwindler aus Hollywood zu machen.
Doch schon, als er noch unter dem Anstoß ihrer Gegenwart und Persönlichkeit taumelte, sammelte er seine Kräfte zum Einsatz. Er dachte: Au, da hast du mich erwischt, mein Liebchen; aber es wird nicht lange dauern, dann mußt du einen Treffer von mir einstecken. Bis neun bin ich auf der Matte gewesen, doch jetzt stehe ich wieder, und der Kampf beginnt erst.
Sie brach den Bann, den sie über ihn geworfen hatte, indem sie einen Augenblick auf seine Karte sah, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Als sie aufblickte, ging sie sofort aus ihrer günstigen Stellung zum Angriff über.
«Und was wünschen Sie, Mr. Joseph Sears?»
Sie empfand eine gewisse Befriedigung und Rechtfertigung über die Verwirrung, in die sie ihren Besucher gestürzt hatte, und über die Leichtigkeit, mit der sie seine Anmaßung durchschaut hatte. Clary Adams brauchte solche Triumphe. Sie war ein Mädchen, das eine Wahl für sein Leben getroffen und den Weg eingeschlagen hatte, der am wenigsten Mut verlangte.
Statt sich dem Kampf in der überaus stark auf Wettbewerb eingestellten Gesellschaft zu stellen, in die sie hineingeboren worden war und in der ihre Eltern so deutlich versagt hatten, vergrub sie sich lieber als Gefährtin und Hilfe von Hannah Bascombe, wofür sie ein geschütztes und luxuriöses Leben erhielt und auf eine nennenswerte Erbschaft hoffen durfte.
Clary war vierzehn, als ihr Vater starb; seine Lebensversicherung deckte kaum die Kosten für die notwendige gutbürgerliche Beerdigung. Als Clary drei Jahre später auch die schwer arbeitende, aber untüchtige Mutter verlor, kam sie als Minderjährige unter die zeitweilige Vormundschaft von Hannah Bascombe, ihrer nächsten Verwandten, die allerdings nur eine entfernte Tante von Mutters Seite war.
Der reichen Frau waren ihre Vorzüge aufgefallen — die Fähigkeit, treu zu sein, das Temperament, aus dem heraus sie die Armut haßte und fürchtete.
Bisher war Hannah Bascombe imstande gewesen, alles zu kaufen, was sie sich je gewünscht hatte — außer unwandelbarer Ergebenheit, verbunden mit ständiger Anwesenheit. In Clary, der armen Verwandten, einer Schönheit, deren Schwächen ihre Stärke ausglich, sah Hannah ein Geschöpf, das sie ihr Leben lang an sich binden konnte, einen Menschen, der ihr bereits seit Jahrzehnten bestehendes Bedürfnis nach einer weiblichen Gefährtin und einem Puffer gegen die Welt befriedigen sollte.
Daraufhin hatte Hannah Clary die Lebensstellung bei ihr ange-boten, mit bestimmten Klauseln natürlich — Sicherheiten für Hannah. Als weitere Möglichkeiten schlug sie eine Ausbildung als Sekretärin vor oder die Erziehung in einem Internat, bis sie alt genug sei, um für sich selbst zu sorgen.
Ohne zu zögern hatte Clary die erste Möglichkeit gewählt und dabei durchaus erkannt, daß das bedeutete, auf ein normales Dasein und die Möglichkeit der Selbsterfüllung als Frau zu verzichten — mindestens solange Hannah Bascombe lebte. Sie hatte mit offenen Augen gewählt. Sie redete sich ein, sie bedauere diese Wahl nicht, da sie geschützt und in äußerstem Luxus lebte. Dennoch nahm sie an jedem unglücklichen Besucher, dessen Absichten nicht ganz rechtmäßig waren, ihre Rache.
5
Es ist ein Kriegsgeschrei im Lande.
JEREMIAS 50, 22
Hannah Bascombe hätte sich keinen besseren Wachhund anschaffen können, um die Geier fernzuhalten, dachte Sears bei sich, während er noch darum rang, die Fassung wiederzugewinnen. Selbst Männer, die in ganz legitimen Geschäften kamen, mußten durch die Begegnung
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