James Bond 05 - Liebesgrüße aus Moskau (German Edition)
einem letzten hallenden Brüllen raste der Orientexpress in die mondhelle Nacht hinaus und verlangsamte wieder.
Bond streckte träge einen Arm aus und zog den Rand der Jalousie beiseite. Er sah Lagerhäuser und Rangiergleise. Helle Lichter schienen glänzend auf die Schienen. Gute, kraftvolle Lichter. Die Lichter der Schweiz.
Der Zug kam leise zum Stehen.
In der gleichmäßigen, singenden Stille erklang ein leises Geräusch aus Richtung des Fußbodens. Bond verfluchte sich dafür, nicht auf Nummer sicher gegangen zu sein. Er duckte sich schnell und lauschte. Für alle Fälle hielt er das Buch vor sich bereit. Nichts regte sich. Bond streckte eine Hand aus und tastete nach der Halsschlagader. Kein Puls. Der Mann war tot. Die Leiche war nur in sich zusammengesunken.
Bond lehnte sich zurück und wartete ungeduldig darauf, dass sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Es gab viel zu tun. Noch bevor er sich um Tatjana kümmern konnte, musste er hier aufräumen.
Mit einem Ruck rollte der lange Expresszug langsam weiter. Schon bald würde er im schnellen Slalom durch die Ausläufer der Alpen in den Kanton Wallis fahren. Die Räder gaben bereits jetzt ein neues Geräusch von sich – ein eiliges Trällern, als ob sie froh wären, den Tunnel hinter sich zu haben.
Bond stand auf, stieg über die ausgestreckten Beine des toten Mannes und schaltete das Deckenlicht an.
Was für ein Durcheinander! Das Abteil sah wie ein Schlachthaus aus. Wie viel Blut befand sich in einem menschlichen Körper? Er erinnerte sich. Fünf Liter. Tja, bald würde sich die gesamte Menge auf dem Boden befinden. Er hoffte, dass sich die Lache wenigstens nicht bis nach draußen auf den Gang ausbreitete! Bond zog die Laken des unteren Betts ab und machte sich an die Arbeit.
Endlich war alles erledigt – die Wände rund um den bedeckten Klumpen auf dem Boden waren abgewischt, und die Koffer standen für die Flucht nach Dijon bereit.
Bond trank eine ganze Karaffe Wasser. Dann trat er auf die Kante des unteren Betts und schüttelte sanft die Schulter unter dem Pelzmantel in der oberen Koje.
Keine Reaktion. Hatte der Mann gelogen? Hatte er sie mit dem Gift umgebracht?
Bond schob seine Hand an ihren Hals. Er war warm. Bond tastete nach einem ihrer Ohrläppchen und zwickte fest hinein. Das Mädchen regte sich benommen und stöhnte. Bond kniff ihr erneut ins Ohr. Und dann noch einmal. Schließlich sagte eine gedämpfte Stimme: »Nicht.«
Bond lächelte. Er schüttelte sie und hörte nicht auf, bis sich Tatjana langsam auf die Seite drehte. Zwei benommene blaue Augen starrten in seine und schlossen sich wieder. »Was ist los?« Die Stimme klang schläfrig und verärgert.
Bond sprach mit ihr und bedrängte sie und verfluchte sie. Er schüttelte sie heftiger. Endlich setzte sie sich hin. Sie starrte ihn ausdruckslos an. Bond zog ihre Beine nach vorn, sodass sie über den Rand des Betts hingen. Irgendwie hievte er sie herunter und auf das untere Bett.
Tatjana sah schrecklich aus – der schlaffe Mund, die müden, verdrehten Augen, das wirre Haar. Bond machte sich mit einem feuchten Handtuch und ihrem Kamm ans Werk.
Lausanne kam und eine Stunde später Vallorbe an der französischen Grenze. Bond ließ Tatjana im Abteil zurück und trat für alle Fälle in den Gang hinaus. Doch die Zollbeamten und Passkontrolleure eilten an ihm vorbei zur Schaffnerkabine und verschwanden nach fünf rätselhaften Minuten wieder.
Bond kehrte ins Abteil zurück. Tatjana war wieder eingeschlafen. Bond schaute auf Nashs Uhr, die sich nun an seinem eigenen Handgelenk befand. Halb fünf. Noch eine weitere Stunde bis Dijon. Bond machte sich an die Arbeit.
Endlich öffnete Tatjana die Augen und riss sie weit auf. Ihre Pupillen waren mehr oder weniger fokussiert. »Hör sofort damit auf, James«, sagte sie. Sie schloss die Augen wieder. Bond wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er brachte ihre Koffer einen nach dem anderen zum Ende des Gangs und stapelte sie neben dem Ausgang. Dann ging er zum Schaffner und informierte ihn darüber, dass es Madame nicht gut gehe und sie den Zug in Dijon verlassen würden.
Bond steckte dem Schaffner ein letztes Trinkgeld zu. »Machen Sie sich keine Umstände«, sagte er. »Ich habe das Gepäck bereits aus unserem Abteil gebracht, um Madame nicht zu stören. Mein Freund, der blonde Mann, ist Arzt. Er war die ganze Nacht über bei uns. Ich habe ihm gesagt, er soll sich in meinem Bett ein wenig hinlegen. Der Mann war vollkommen erschöpft. Es
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