Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
Vom Netzwerk:
schließlich ein bestimmtes Grübchen auf ihrer linken Wange erreichte. Dies war durch nichts zu übertreffen; kein Lächeln konnte mehr bewirken, und Benvolio vermochte sich nichts Schöneres vorzustellen. Dennoch kann ich nicht sagen, dass er in das junge Mädchen verliebt gewesen wäre; er hatte sie lediglich gern. Aber gern hatte er sie zweifellos, so gern, wie ein Mann nur einmal in seinem Leben etwas gern hat. Als er sie besser kennenlernte, empfand er ihre große Gelehrsamkeit bald nicht mehr als Kuriosität; sie kam ihm vielmehr völlig natürlich vor, und er fragte sich nur, weshalb es nicht mehr Frauen ihres Schlages gab. Scholastica hatte anstelle von Muttermilch den Wein der Wissenschaft eingesogen. Ihre Mutter starb, als Scholastica noch ein Säugling war, und sie ließ sie in einer Wiege in Gestalt eines alten Folianten zurück, der, einem breiten V gleich,
zu drei Vierteln geöffnet war. Ihr Vater war ihr Kindermädchen, ihr Spielgefährte, ihr Lehrer, ihr lebenslanger Begleiter, ihr einziger Freund gewesen. Er hatte ihr das griechische Alphabet beigebracht, noch ehe sie ihr eigenes kannte, und sie mit Krumen gefüttert, die bei seinen Gelagen der Gelehrsamkeit abfielen. Sie hatte demütig genommen, was ihr gegeben wurde, und ohne sich dessen bewusst zu sein, wuchs sie zu einer kleinen Dienerin der Wissenschaft heran.
    Benvolio erkannte, dass sie keineswegs eine Frau von überragender Geisteskraft war. Das Streben nach Erkenntnis hätte sie, aus eigenem Antrieb, nicht sehr weit getragen. Doch sie verfügte über eine vollendete Auffassungsgabe – einen Geist so klar und still und natürlich wie ein Waldteich, der ein exaktes, scharf umrissenes Abbild von allem zurückwirft, was ihm dargeboten wird. Überdies war sie so gelehrig, so eifrig, so unermüdlich. War sie auch schlank und hager, und zudem recht blass, denn sie hielt sich wenig im Freien auf, wurde sie doch nie müde, hatte sie nie Kopfschmerzen, schloss sie nie ein Buch mit einem Seufzer, legte sie nie eine Feder überdrüssig nieder. Benvolio sagte sich, sie sei ganz vorzüglich dafür geschaffen, einem Mann zu helfen. Welches Arbeitspensum
könnte er an Sommervormittagen und Winterabenden bewältigen mit diesem heiter-zurückhaltenden kleinen Geschöpf an seiner Seite, das kopierte, sich in die Sache hineindachte und mit ihm fühlte! Er fragte sich, wie viel ihr diese Dinge bedeuteten, ja ob sie einer Frau überhaupt etwas bedeuten konnten, ohne dass diese griesgrämig und verschlossen war. Und großenteils, um darüber Auskunft zu erhalten, pflegte er mit der erwähnten Häufigkeit ihre Augen zu befragen. Doch sie gaben ihm nie eine ganz eindeutige Antwort, und deshalb kam er immer wieder. Sie schienen zu sagen:«Könnten Sie um meinetwillen das Leben eines Forschers führen, dann könnte ich um Ihretwillen mein Lebtag lang Diktate aufnehmen und Manuskripte kopieren. »War es die göttliche Philosophie, die Scholastica so reizvoll machte, oder war sie es, die die Philosophie göttlich machte?
    Ich kann nicht alles erzählen, was zwischen diesen beiden jungen Leuten geschah, und ich muss einen Großteil Ihrer Phantasie überlassen. Der Sommer ging zu Ende, und als die Herbstnachmittage neblig zu werden begannen, war aus dem stillen Paar in dem alten grauen Haus ein gesprächiges Trio geworden. Für Benvolio waren die Tage sehr schnell vergangen, das Trio
hatte sich über so vieles unterhalten. Gar manche Stunde hatte er mit dem jungen Mädchen im Garten verbracht; zusammen waren sie über die vom Unkraut überwucherten Wege spaziert oder hatten sich auf einer bemoosten Bank ausgeruht. Scholastica war eine wunderbare Zuhörerin, da sie nicht nur aufmerksam war, sondern ihm auch folgen konnte. Benvolio hatte Frauen gekannt, die sehr schöne Augen unverwandt auf ihn richteten, mit verzückter Miene an seinen Lippen hingen und ihm dennoch drei Minuten später nicht sagen konnten, worüber er gerade gesprochen hatte. Scholastica starrte ihn zwar an, aber sie verstand ihn auch.

V
    Sie werden sagen, ich hätte Benvolio mit meiner Beschreibung unrecht getan; vielmehr erweise er sich, weit davon entfernt, der wetterwendische Bursche zu sein, als den ich ihn geschildert habe, geradezu als Musterbeispiel an Beständigkeit. Aber hören Sie, wie es weitergeht! Just zu jener Zeit wachte er eines Morgens mit Kopfschmerzen und dem heftigsten Widerwillen gegen abstrakte Wissenschaft auf, nachdem er am Abend
zuvor beim Zubettgehen noch Lobeshymnen auf die

Weitere Kostenlose Bücher