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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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passiert. Unter anderem hatte sich dieses bescheidene junge Mädchen in unseren jungen Mann verliebt. Was geschah, als sie erfuhr, dass gerade er der Verfasser des kleinen weißen Bändchens war, vermag ich kaum zu schildern; ihr unschuldiges Herz begann zu pochen und zu flattern. Benvolio besaß einen alten, in Juchtenleder gebundenen Quartband 10 , dem ein angenehmer scharfer Geruch anhaftete. In diesem alten Quartband führte er eine Art Tagebuch – sofern man denn von einem Tagebuch sprechen kann, hatte Benvolio doch zuweilen ein ganzes Jahr verstreichen lassen, ohne einen Eintrag vorzunehmen. Andererseits fanden sich darin endlose Schilderungen eines einzigen Tages. Beim Durchblättern wären Sie nicht selten auf den Namen der Gräfin gestoßen, und zu der Zeit, von der wir jetzt sprechen, hätten Sie auf jeder Seite«den Professor»und eine gewisse Person namens Scholastica erwähnt gefunden. Scholastica war, wie Sie sogleich vermutet haben werden, die Tochter des Professors. Wahrscheinlich war dies nicht ihr richtiger Name, aber es war der Name, den Benvolio ihr gegeben hatte, und wir brauchen nicht exakter zu sein als
er. Mittlerweile wusste er natürlich bereits eine Menge über sie und ihren verehrungswürdigen Vater. Vor dem Verlust seines Augenlichts und seiner Gesundheit war der Professor eine der imposantesten Stützen der Universität gewesen. Jetzt war er ein alter Mann; er hatte erst spät geheiratet. Als sich seine Gebrechen einstellten, gab er seinen Lehrstuhl und seine Vorlesungen auf und vergrub sich in seiner Bibliothek. Er machte seine Tochter zu seiner Vorleserin und Sekretärin, und sein erstaunliches Gedächtnis kam ihrer klaren jungen Stimme und ihrer leise dahingleitenden Feder zu Hilfe. In der wissenschaftlichen Welt genoss er sehr hohes Ansehen; Gelehrte kamen von weit her, um den blinden Weisen zu konsultieren und seine Weisheit als oberste Instanz anzurufen. Die Universität setzte ihm eine Pension aus, und er hauste in einem düsteren Winkel des akademischen Schattenreichs. Die Pension war klein, doch der alte Gelehrte und das junge Mädchen lebten in klösterlicher Einfachheit. Nun hatte er aber einen Bruder oder vielmehr einen Halbbruder, der sich überhaupt nicht für Bücher interessierte, wenn man einmal von seinem Hauptbuch und seinem Journal absah. Dieser Mensch war im Handel zu Geld gekommen und hatte sich,
unverheiratet und kinderlos, in das alte graue Haus zurückgezogen, das an Benvolios Garten angrenzte. Er stand im Ruf, ein unerbittlicher Knauser, ein hartherziger alter Geizkragen zu sein, der seine Tage damit verbrachte, durch sein muffiges Haus zu schlurfen und dabei die Münzen in seinen Taschen klimpern zu lassen, und seine Nächte damit, seine Beutel voller Geld hinter Geheimtüren und -klappen hervorzuholen und seinen Schatz zu zählen. Er war nichts weiter als ein Schatten, der einen frösteln machte, ein Name, der üble Assoziationen weckte, ein Anlass, einen Fluch auszustoßen; niemand hatte ihn je zu Gesicht bekommen oder gar die Schwelle zu seiner Wohnung überschritten. Aber offenbar war sein Herz doch nicht ganz aus Stein. Eines Tages schrieb er seinem Bruder, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, ihm sei zu Ohren gekommen, dass er blind, gebrechlich und arm sei; er selbst besitze ein großes Haus mit einem Garten dahinter, und der Professor könne, sofern er nicht zu stolz dazu wäre, gern dort wohnen. So war der Professor wenige Wochen zuvor eingezogen, und könnte man auch meinen, einem blinden alten Asketen schiene eine Unterkunft so gut wie die andere, empfand der dennoch seine neue Wohnung als
große Annehmlichkeit. Seiner Tochter kam sie vor wie ein Paradies, verglichen mit den beiden engen Kammern unter dem alten Giebel der Universität, war doch ein junges Mädchen dort angesichts des ständigen Kommens und Gehens von Studenten gezwungen, ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit zu führen.
    Als Benvolio sich genötigt gesehen hatte, sich zu seiner wahren Identität zu bekennen, hatte er als Grund für sein Eindringen ein unwiderstehliches Bedürfnis angeführt, die Meinung des alten Mannes zu gewissen verzwickten Fragen der Philosophie einzuholen. Dies war eine verzeihliche Unwahrheit, jedenfalls rechtfertigte das Ergebnis sie. Einmal in eine philosophische Diskussion vertieft, war Benvolio imstande, aus dem Blick zu verlieren, dass es auf der Welt außer der Metaphysik noch etwas anderes gab; er ergötzte sich an transzendenten

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