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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Abstraktionen und vergaß darüber alle konkreten Dinge – sogar das schönste aller konkreten Dinge, die Gräfin. Ihn verlangte danach, im weiten Ozean der reinen Vernunft auf Entdeckungsreise zu gehen. Er wusste, dass der allzu kühne Abenteurer von solchen Reisen nur selten zurückkehrt; doch warum sollte er der düsteren Welt der Tatsachen nachtrauern, wenn er dafür ein El Dorado des
Denkens fände? Benvolio führte anspruchsvolle Gespräche mit dem Professor, der ein leidenschaftlicher Neuplatoniker war und dessen bewunderungswürdiger Verstand die ätherischen Spekulationen der alexandrinischen Schule 11 zu differenzierterer Feinheit weitergesponnen hatte. Damals erklärte Benvolio, Studium und Wissenschaft seien das Einzige im Leben, das der Mühe wert sei, und er fragte sich, wie gewöhnlichere Beschäftigungen ihm jemals auch nur einen Augenblick lang etwas bedeutet haben konnten. Er verfasste ein kleines Gedicht im Stil von Miltons«Penseroso» 12 , das, erreichte es auch nicht ganz die Vortrefflichkeit jener berühmten Verse, doch zumindest das gelungenste eigene Werk des jungen Mannes war. Wenn Benvolio etwas mochte, dann mochte er es voll und ganz – dann sprach es alle seine Sinne an. Er fand Gefallen an allem, was dazu gehörte, an den Begleitumständen, den Äußerlichkeiten. Wo bei dem Vergnügen, das seine Besuche beim Professor ihm bereiteten, der philosophische Reiz begann und wo er endete, war schwer zu sagen. Begann er mit einem Blick auf die sanften, blinden blauen Augen des alten Mannes, die reglos unter dessen struppigen weißen Brauen saßen wie Tupfen eines blassen Winterhimmels unter
einer hoch aufgetürmten Wolke, so endete er wohl kaum, ehe dieser die kleine schwarze Rundung an Scholasticas Pantoffel erreichte, und zweifellos hatte er zwischenzeitlich auch alles andere in Augenschein genommen. Es gab an seinen Freunden nichts, was für seinen empfänglichen Geist nicht von Reiz, von Interesse, von Bedeutung gewesen wäre. Ihre Zurückgezogenheit, ihre innere Ruhe, ihre überaus einfachen Vorstellungen von der Welt und deren Treiben, der schwache antiquierte Geruch der Universität, der sie umgab, ihre düstere alte Wohnung, in die der Stadtklatsch nicht einzudringen vermochte – all dies trug zu seiner Erbauung bei. Vielleicht war das Wesentliche daran aber auch, dass in diesem stillen, einfachen Leben die intellektuelle Saite, wenn man sie berührte, so wunderbar mitschwang. Was die Welt des Denkens betraf, gab es nichts, worin seine Freunde nicht eingeweiht gewesen wären – nichts, was sie nicht verstanden hätten. Das warme Licht in dem Zimmer mit der niedrigen Decke, durchzogen von den schräg einfallenden Sonnenstrahlen, in denen die Staubkörnchen vor den dunklen Bücherregalen tanzten, verströmte eine Atmosphäre geistiger Regsamkeit. Aufgrund all dessen waren der Professor und seine Tochter, so
bescheiden sie auch sein mochten, keineswegs so naiv, wie sie auf den ersten Blick erschienen. Auch sie kannten, auf ihre eigene Weise, die Welt; sie waren keine Leute, die man herablassend behandelte; sie zu besuchen bedeutete kein gönnerhaftes Entgegenkommen, sondern ein Privileg.
    Im Fall des Professors überraschte dies nicht weiter. Er hatte fünfzig Jahre mit emsigem Studium verbracht, und dass er ehrwürdig und gelehrt war, gehörte zu seiner Persönlichkeit und seinem Amt. Doch sein hingebungsvolles Töchterchen erschien Benvolio anfangs auf beinahe groteske Weise klug. Sie war eine Ausnahmeerscheinung, ein Phänomen, eine bezaubernde Monstrosität. Bezaubernd war sie fraglos und – das muss ich, ohne noch mehr Zeit zu vertun, nun endlich sagen – auch tatsächlich so hübsch, wie Benvolio schon von seinem Fenster aus vermutet hatte. Dennoch offenbarte sich ihre Hübschheit selbst bei einer Betrachtung aus nächster Nähe erst allmählich. Es war, als sei sie durch mehrere Lagen hauchdünner Schleier verdeckt, die man nacheinander beiseite ziehen musste. Und dann kam eine so schlichte, schüchterne, hintergründige Hübschheit zum Vorschein, dass Benvolio, in den erwähnten privaten
Aufzeichnungen, gar nie auf die Idee kam, sie mit dem anmaßenden Begriff Schönheit zu bezeichnen. Ja, er erwähnte sie überhaupt nicht, er gab sich damit zufrieden, sie zu genießen – indem er in die sanften grauen Augen des Mädchens blickte und absichtlich Dinge sagte, die ihr offenes Lächeln (gleich den sich ausbreitenden kleinen Wellen eines Sees) immer breiter werden ließen, bis es

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