James, Henry
göttliche Philosophie gesungen hatte. Er erinnerte sich, dass Scholastica ihm erzählt hatte, sie habe nie Kopfschmerzen, und schon der Gedanke daran brachte ihn auf. Er ertappte sich plötzlich dabei, dass er sie nur noch als ein hübsches kleines mechanisches Spielzeug sah, aufgezogen, damit es Seiten umblätterte und Dinge in gefälliger Handschrift niederschrieb, doch ohne einen Kopf oder ein Herz, die fähig gewesen wären, menschliche Qualen zu empfinden. Er schlief erneut ein, und in einem jener kurzen, aber lebhaften Träume, die sich mitunter in den Morgenstunden einstellen, erschien ihm, strahlend und schön, die Gräfin. Sie war ohne jeden Zweifel menschlich und bestens vertraut mit Kopfschmerz und Herzeleid. Er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu sehen und ihr zu sagen, dass er sie anbete. Die Befriedigung dieses Verlangens war nicht unmöglich, und noch ehe der Tag zur Neige ging, war er schon auf dem Weg, sie sich zu verschaffen. Er verließ die Stadt und pilgerte zum Landgut der Gräfin, wo sie wie üblich Hof hielt und ein vergnügliches Leben führte. Er hatte vorgehabt, eine Woche bei ihr zu bleiben; er blieb zwei Monate – die unterhaltsamsten
zwei Monate, die er je erlebt hatte. Ich kann natürlich nicht den Anspruch erheben, sämtliche Zerstreuungen aufzuzählen, denen dieser glückliche Zirkel sich hingab, oder zu sagen, wie genau Benvolio jede einzelne Stunde seiner Zeit verbrachte. Doch war ihm der Sommer schon schnell vergangen, so eilte der Herbst nicht minder rasch dahin. Dann und wann dachte er einmal an Scholastica und ihren Vater – dann und wann wohlgemerkt, wenn seine augenblickliche Beschäftigung ein Abschweifen seiner Gedanken zuließ. Dies war nicht oft der Fall, denn die Gräfin hatte, wie man so sagt, immer jede Menge Pfeile im Köcher. Sehen Sie, für Benvolio hatte alles Negative auch immer eine eindeutig positive Seite, und er entschuldigte seine Unbeständigkeit in einer Sache damit, dass er dafür in einer anderen sehr beharrlich war. Während seines Aufenthalts bei der Gräfin entfaltete er ein Talent, das er noch nie erprobt, ja von dem er bis dahin gar nichts geahnt hatte: Es stellte sich heraus, dass er brillante Bühnenstücke zu verfassen vermochte. In einem großen Landhaus boten sich die langen Herbstabende geradezu an, dem vielgeschmähten Zeitvertreib zu frönen, der als Liebhaberaufführungen bekannt ist. Die Gräfin besaß ein Theater und reichlich Requisiten
für eine Truppe von Amateurschauspielern; alles, was fehlte, war ein Stück, das genau auf die vorhandenen Mittel zugeschnitten war. Sie schlug Benvolio vor, er solle doch eines schreiben. Die Idee gefiel ihm; er schloss sich in der Bibliothek ein und schuf binnen einer Woche ein Meisterwerk. Das Sujet hatte er eines Tages, als er die Bücher der Gräfin in Augenschein nahm, in einer alten handschriftlichen Chronik gefunden, die vom Kaplan eines der Vorfahren ihres verstorbenen Gatten verfasst worden war. Sie berichtete in groben Zügen von einem wundersamen Drama, und Benvolio bereitete der Versuch, ein Kunstwerk daraus zu machen, großes Vergnügen. All seine schöpferische Kraft, all seine Phantasie verwandte er darauf. Dies ist die wahre Bestimmung meiner Fähigkeiten, sagte er sich begeistert – das Studium glühender menschlicher Leidenschaften, das Malen prächtiger dramatischer Gemälde, und nicht der trockene, haarspalterische Disput. Sein Stück wurde mit glänzendem Erfolg aufgeführt, die Gräfin höchstpersönlich gab die Heldin. Er hatte sie nie auf hohem Kothurn 13 einherschreiten sehen und keine Ahnung von ihrer schauspielerischen Begabung gehabt, doch sie war unnachahmlich, sie war eine geborene Künstlerin. Was dem Leben
seinen Reiz verleiht, sagte Benvolio daraufhin zu sich selbst, ist das Moment des Unerwarteten, und das findet man nur bei Frauen wie der Gräfin. Ich täte ihm aber unrecht, deutete ich hier an, er hätte einen unbilligen Vergleich angestellt, denn er dachte nicht einmal an Scholastica. Sein Stück wurde mehrmals aufgeführt, und Leute aus der ganzen Gegend wurden eingeladen, es sich anzusehen. Für die Dienstboten hatte man im Schlosshof ein großes Feldlager eingerichtet, wo in den kalten Novembernächten eigens ein Feuer angezündet wurde, damit sie sich daran wärmen konnten. Es war ein großer Triumph für Benvolio, und er genoss ihn unübersehbar. Er wusste, dass er ihn genoss, wusste, welch großer Triumph es war, und er verspürte eine
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