James, Henry
Bewunderung schon diesem armseligen prosaischen Havre schenken, werden Sie für Besseres gar keine mehr übrig haben. Verschleudern Sie all Ihre Bewunderung nicht schon am ersten Tag; denken Sie daran, sie ist Ihr intellektueller Kreditbrief. Denken Sie an all die schönen Orte und Dinge, die auf Sie warten; denken Sie an das liebliche Italien!»
« Ich habe keine Angst, sie könnte mir ausgehen», entgegnete sie fröhlich, den Blick noch immer auf die Häuser auf der anderen Straßenseite gerichtet.«Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und mir immer wieder klarmachen, dass ich wirklich hier bin. Alles ist so geheimnisvoll, so alt, so anders.»
« Wie kommt es übrigens, dass Sie hier sitzen?», fragte ich.«Sind Sie nicht in einem der Gasthäuser abgestiegen?»Ich war halb belustigt, halb besorgt ob der Arglosigkeit, mit der diese auf grazile Weise hübsche Frau sich so offensichtlich ganz allein am Rand des Bürgersteigs niedergelassen hatte.
« Mein Vetter hat mich hierhergebracht», antwortete
sie.«Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich einen Vetter in Europa habe. Er hat mich heute Morgen vom Dampfer abgeholt.»
« Er hätte sich gar nicht erst die Mühe machen müssen, Sie abzuholen, wenn er Sie so bald schon wieder verlässt.»
« Oh, er ist nur für eine halbe Stunde fortgegangen», sagte Miss Spencer.«Er holt mein Geld.»
« Wo ist Ihr Geld?»
Sie lachte kurz auf.«Das will ich Ihnen gern sagen! Es steckt in Reisekreditbriefen.»
« Und wo sind Ihre Reisekreditbriefe?»
« In der Jackentasche meines Vetters.»
Sie äußerte dies heiter und völlig gelassen, doch mich befiel dabei ein spürbarer Schauder – weshalb, vermag ich kaum zu sagen. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Grund dafür nennen können, denn ich wusste ja überhaupt nichts über Miss Spencers Vetter. Dass er ihr Vetter war, sprach erst einmal für ihn. Aber ich fühlte ein plötzliches Unbehagen bei dem Gedanken, dass ihre kärglichen Mittel bereits eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft in seine Hände gelangt waren.
« Wird er mit Ihnen zusammen reisen?», fragte ich.
« Nur bis Paris. Er studiert Kunst in Paris. Ich habe ihm geschrieben, dass ich komme, aber ich habe nicht erwartet, dass er hierher zum Schiff kommt. Ich nahm an, er würde mich dann in Paris vom Zug abholen. Es ist sehr nett von ihm. Aber er ist sehr nett – und sehr intelligent.»
Ich verspürte sogleich große Neugier, diesen intelligenten Vetter, der Kunst studierte, kennenzulernen.
« Ist er zur Bank gegangen?», fragte ich.
« Ja, zur Bank. Er hat mich in ein Hotel gebracht – es ist ein so wundersames, anheimelndes, hübsches kleines Anwesen mit einem Hof in der Mitte und einer umlaufenden Galerie und einer reizenden Wirtin in einem so perfekt sitzenden Kleid und einer so schön gekräuselten Haube! Nach einer Weile machten wir uns dann auf den Weg zur Bank, denn ich habe kein französisches Geld. Aber mir war vom Schaukeln des Schiffes noch ganz schwindlig, und ich hielt es für besser, mich irgendwo hinzusetzen. Er fand diesen Platz hier für mich und ging allein zur Bank. Ich soll hier auf ihn warten.»
Es mag sehr sonderbar erscheinen, doch mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er wohl nie zurückkommen werde. Ich machte es mir auf dem Stuhl neben Miss Spencer bequem
und beschloss, mit ihr zusammen zu warten. Es hatte etwas Rührendes, mit welcher Aufmerksamkeit sie alles beobachtete. Ihr entging nichts von dem Treiben auf der Straße vor uns – Eigentümlichkeiten der Kleidung, die verschiedenen Arten von Fahrzeugen und Fuhrwerken, die großen normannischen Pferde, die dicken Priester, die rasierten Pudel. Wir unterhielten uns über diese Dinge, und die Unvoreingenommenheit ihrer Wahrnehmung und die Art, wie ihre durch Buchwissen genährte Phantasie alles erfasste und willkommen hieß, hatten etwas Bezauberndes.
« Und was werden Sie tun, wenn Ihr Vetter zurückkommt?», fragte ich.
Sie zögerte einen Augenblick.«Wir wissen es noch nicht so recht.»
« Wann fahren Sie nach Paris? Wenn Sie den Vier-Uhr-Zug nehmen, habe ich vielleicht das Vergnügen, mit Ihnen zusammen zu reisen.»
« Ich glaube nicht, dass wir das tun werden. Mein Vetter hält es für besser, wenn ich noch ein paar Tage hierbleibe.»
« Oh!», sagte ich und dann fünf Minuten nichts mehr. Ich fragte mich, was ihr Vetter, salopp ausgedrückt, im Schilde führen mochte. Ich blickte die Straße hinauf und hinunter, entdeckte aber
nichts, was wie ein
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