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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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intelligenter amerikanischer Kunststudent aussah. Schließlich gestattete ich mir die Bemerkung, dass Havre kaum ein Ort war, den man unter ästhetischen Gesichtspunkten als Station einer Europareise auswählen würde. Es war ein Ort, der einfach auf dem Weg lag, mehr nicht; ein Durchgangsort, den man möglichst schnell wieder verlassen sollte. Ich empfahl ihr, mit dem Nachmittagszug nach Paris zu fahren und sich bis dahin die Zeit mit einem Ausflug zu der alten Festung an der Hafeneinfahrt zu vertreiben – jenem malerischen Rundbau, der den Namen Franz’ des Ersten trug und wie eine kleine Engelsburg 4 aussah. (Er wurde vor kurzem abgerissen.)
    Sie hörte mir mit großem Interesse zu, dann blickte sie einen Moment lang ernst drein.
    « Mein Vetter sagte, wenn er zurückkäme, hätte er mir etwas Wichtiges mitzuteilen und wir würden nichts tun oder entscheiden, ehe ich es gehört hätte. Aber ich werde dafür sorgen, dass er es mir rasch erzählt, und dann werden wir zu der alten Festung gehen. Ich habe es nicht eilig, nach Paris zu kommen; ich habe reichlich Zeit.»
    Bei den letzten Worten umspielte ein Lächeln ihren ein wenig ernsten kleinen Mund. Doch ich ließ meinen Blick bewusst auf ihr ruhen und
bemerkte ein kurzes Aufblitzen von Besorgnis in ihren Augen.
    « Erzählen Sie mir nicht», sagte ich,«dass dieser unselige Mensch schlechte Nachrichten für Sie hat!»
    « Ich fürchte, sie sind wohl ein wenig schlecht, aber ich glaube nicht, dass sie sehr schlecht sind. Wie auch immer, ich muss sie mir anhören.»
    Ich warf ihr erneut einen kurzen Blick zu.« Sie sind nicht nach Europa gekommen, um sich etwas anzuhören», sagte ich.«Sie sind gekommen, um etwas zu sehen!»Doch war ich jetzt sicher, dass ihr Vetter zurückkehren würde; da er ihr etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte, würde er bestimmt auftauchen. Wir saßen noch eine Weile da, und ich erkundigte mich nach ihren Reiseplänen. Sie hatte die Route auf Anhieb parat und zählte die Namen mit einer Art feierlicher Bestimmtheit auf: von Paris nach Dijon und Avignon, von Avignon nach Marseille und an die französische Riviera; von dort nach Genua und weiter nach Spezia, Pisa, Florenz und Rom. Es war ihr offenbar nie in den Sinn gekommen, der Umstand, dass sie allein reiste, könnte ihr Unannehmlichkeiten bescheren, und da sie nun einmal keinen Reisegefährten hatte, unterließ ich es tunlichst, sie zu beunruhigen.

    Schließlich kehrte ihr Vetter zurück. Ich sah ihn aus einer Seitenstraße treten und auf uns zukommen, und ich wusste von dem Moment an, da mein Blick auf ihn fiel, dass dies der intelligente amerikanische Kunststudent war. Er trug einen Schlapphut und eine abgewetzte schwarze Samtjacke, wie ich sie oft in der Rue Bonaparte gesehen hatte. Sein Hemdkragen ließ große Teile eines Halses frei, der, auf die Entfernung, nicht unbedingt statuenhaft wirkte. Der Mann war groß und mager; er hatte rote Haare und Sommersprossen. So viel konnte ich in der kurzen Zeit erkennen, während er sich dem Café näherte und mich dabei mit verständlicher Überraschung unter seinem schattenspendenden Kopfputz hervor anstarrte. Als er zu uns trat, stellte ich mich ihm sogleich als alten Bekannten von Miss Spencer vor. Er sah mich mit seinen kleinen roten Augen durchdringend an, dann verbeugte er sich feierlich in französischer Manier und zog dabei seinen Hut.
    « Sie waren nicht auf dem Schiff?», fragte er.
    « Nein. Ich bin schon seit drei Jahren in Europa. »
    Er verbeugte sich erneut feierlich und bedeutete mir, ich möge wieder Platz nehmen. Ich setzte mich, aber nur, um ihn noch einen Augenblick
zu beobachten – ich hatte bemerkt, dass es Zeit wurde, zu meiner Schwester zurückzukehren. Miss Spencers Vetter war ein seltsamer Geselle. Die Natur hatte ihn mit einer Gestalt ausgestattet, die nicht dazu geschaffen war, sich wie Raphael oder Byron zu kleiden, und sein Samtwams und sein nackter Hals passten nicht zu seinen Gesichtszügen. Sein Haar war kurz geschoren; seine Ohren waren groß und standen vom Kopf ab. Er hatte eine nachlässige Körperhaltung, die, ebenso wie sein melancholischsentimentales Äußeres, einen eigentümlichen Kontrast zu dem stechenden Blick seiner sonderbar gefärbten Augen bildete. Vielleicht war ich ja voreingenommen, doch sein Blick schien mir hinterhältig. Eine Weile lang sagte er nichts; die Hände auf seinen Stock gestützt, schaute er die Straße hinauf und hinunter. Schließlich hob er den Stock langsam in die Höhe

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