James, Henry
unter einer Markise mehrere Tische und Stühle auf dem Bürgersteig aufgestellt waren. Die Fenster im Hintergrund standen offen; ein halbes Dutzend Kübelpflanzen war neben der Tür aufgereiht; den Bürgersteig hatte man mit sauberer Kleie bestreut. Es war ein nettes kleines altmodisches Café. Drinnen, wo es verhältnismäßig dunkel war, sah ich eine hübsche, stämmige Frau in einer Haube mit rosafarbenen Bändern; sie thronte vor einem Spiegel, der an der Wand hinter ihr hing, und lächelte jemandem zu, der nicht zu sehen war. All das nahm ich jedoch erst später wahr; zunächst fiel mir eine Dame auf, die allein an einem der Marmortischchen im Freien saß. Mein Schwager war stehen geblieben, um sie zu betrachten. Auf dem Tischchen stand etwas,
doch sie saß, die Hände verschränkt, ruhig zurückgelehnt und blickte – von uns weg – die Straße hinunter. Ich konnte noch nicht einmal richtig ihr Profil sehen, dennoch hatte ich sofort das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein.
« Die kleine Dame vom Dampfer!», rief mein Schwager.
« Sie war auf eurem Dampfer?», fragte ich.
« Sie saß von morgens bis abends an Deck, die Hände so verschränkt wie jetzt, den Blick zum östlichen Horizont gerichtet. Sie war nie seekrank. »
« Wirst du sie ansprechen?»
« Ich kenne sie gar nicht. Ich habe nie ihre Bekanntschaft gemacht. Ich fühlte mich einfach zu miserabel. Aber ich habe sie oft beobachtet, und sie hat – warum, weiß ich nicht – mein Interesse geweckt. Sie ist eine liebe kleine Yankee-Frau. Vermutlich eine Lehrerin auf Ferienreise – für die ihre Schüler Geld gesammelt haben.»
Als sie ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte, um die steilen, grauen Hausfassaden gegenüber zu betrachten, sah ich ihr Gesicht mehr im Profil. Da sagte ich:«Ich werde sie selbst ansprechen.»
« Das würde ich nicht tun, sie ist sehr schüchtern», sagte mein Schwager.
« Mein lieber Freund, ich kenne sie. Ich habe
ihr einmal auf einer Teegesellschaft Photographien gezeigt.»
Mit diesen Worten ging ich zu ihr hin. Sie wandte sich um und blickte mich an, und ich sah, dass es tatsächlich Miss Caroline Spencer war. Doch sie erkannte mich nicht sofort; sie schien verwirrt. Ich schob einen Stuhl an den Tisch und setzte mich.
« Nun», sagte ich,«ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht!»
Sie starrte mich an und errötete dabei ein wenig; dann fuhr sie kurz hoch – ein Zeichen, dass sie mich erkannt hatte.
« Sie haben mir die Photographien gezeigt – in Grimwinter!»
« Ja, das stimmt. Das trifft sich wunderbar, denn mir scheint, es ist an mir, Ihnen einen förmlichen Empfang zu bereiten – Sie offiziell zu begrüßen. Ich habe Ihnen ja so viel über Europa erzählt.»
« Sie haben nicht zu viel versprochen. Ich bin so glücklich!», rief sie leise.
Tatsächlich machte sie einen glücklichen Eindruck. Nichts verriet, dass sie älter geworden war; sie war noch auf dieselbe gesetzte, unaufdringliche und sittsame Weise hübsch wie damals. Hatte sie früher schon wie eine dünnstielige,
blässliche Blume des Puritanismus gewirkt, so kann man sich leicht vorstellen, dass diese zarte Blüte in ihrer jetzigen Umgebung nicht weniger auffiel. Neben ihr trank ein älterer Herr Absinth; hinter ihr rief die rosafarben bebänderte dame de comptoir 3 mit«Alcibiade! Alcibiade!»den eine lange Schürze tragenden Kellner zu sich. Ich erklärte Miss Spencer, dass mein Gefährte jüngst ihr Schiffsgenosse gewesen sei, und mein Schwager trat zu uns und wurde ihr vorgestellt. Doch sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen, und ich erinnerte mich, dass er mir erzählt hatte, ihr Blick sei ständig auf den östlichen Horizont gerichtet gewesen. Sie hatte ihn offenkundig nicht wahrgenommen und machte, noch immer schüchtern lächelnd, auch gar nicht erst den Versuch, so zu tun, als hätte sie ihn bemerkt. Ich blieb mit ihr vor dem Café sitzen, und er ging zu seiner Frau ins Hotel zurück. Ich sagte zu Miss Spencer, dass dieses unser Zusammentreffen in der ersten Stunde nach ihrer Ankunft wirklich sehr kurios sei, dass ich mich aber freute, sie zu sehen und zu erfahren, welches ihre ersten Eindrücke waren.
« Ach, mir fehlen die Worte», antwortete sie.« Ich komme mir vor wie in einem Traum. Ich sitze hier schon seit einer Stunde und möchte
gar nicht mehr weg. Alles ist so malerisch. Ich weiß nicht, ob der Kaffee mich vielleicht berauscht hat; er ist so köstlich.»
« Aber, aber», sagte ich,«wenn Sie Ihre ganze
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